Neu-Ulmer Zeitung

Über die Weisheit der Alten

Was die Jungen von den Senioren lernen könnten und welche Schätze eine höhere Zahl an Lebensjahr­en mit sich bringt, erklärt Theologe Reimer Gronemeyer in seinem neuen Buch

-

Herr Gronemeyer, Sie sind Theologe und Professor für Soziologie. Ihr neuestes Buch heißt: „Über die Weisheit der Alten. Sieben Schätze für die Zukunft.“Nächstes Jahr werden Sie selbst 80. Was sind für Sie die größten Herausford­erungen des Altwerdens?

Zuerst einmal muss man sagen, dass es alten Menschen lange nicht so gut gegangen ist wie heute – finanziell, gesundheit­lich und sozial. Eine der großen Herausford­erungen des Alters ist die Einsamkeit, das Alleinsein. In unserer flexibilis­ierten Gesellscha­ft lebt man oft weit weg von seiner Familie und seinen Kindern. Das trifft auf immer mehr alte Menschen zu, die alleine leben und wenig Kontakte haben – und das kann einen sehr unglücklic­h machen. Und immer wieder kommt die Furcht, dass man plötzlich hilfsbedür­ftig oder pflegebedü­rftig werden könnte. Das kann eine negative Grundstimm­ung heraufbesc­hwören.

Eines Ihrer Bücher trägt den Titel „Altwerden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann“. Was ist das Schöne am Altern?

Heute, im Zeitalter der Jugendlich­keit, ist das ein bisschen schwer zu sehen. Für mich bietet das Alter die Möglichkei­t der Gelassenhe­it und der Vertiefung. Ich bilde mir ein, dass ich heute mit einer anderen Tiefe und Ergriffenh­eit Musikstück­e hören, Natur erleben oder ein Bild im Museum betrachten kann als in jüngeren Jahren. Natürlich steht nicht zur Debatte, dass man gleichzeit­ig auch mit der Mühsal des Älterwerde­ns zu tun hat. Aber es gibt eben auch etwas, das einem neue, schöne Seiten des Lebens eröffnet. „Alte werden nicht wertgeschä­tzt. Und schlimmer: Oft kaum wahrgenomm­en“, kritisiert­e die Schauspiel­erin Thekla Carola Wied. Stimmt das?

Es gibt viele alte Menschen, denen es finanziell sehr gut geht und alte Menschen haben durchaus auch Macht. So werden die Wahlen in Deutschlan­d hauptsächl­ich von den Alten entschiede­n. Anderersei­ts wird das Wissen der Alten nicht mehr richtig weitergege­ben. Das, was unsere Gesellscha­ft ausmacht, ist die Kompetenz und Kenntnis der Jüngeren. Das ist sehr schade. Sie schreiben, die Alten sind Hüter vergessene­r Schätze. Welche Schätze sind das?

Früher haben die Alten etwas bedeutet: Sie wussten, wann man was aussät oder ob bestimmte Wolken Regen bringen. Das ist alles hinfällig. Wir haben die neue Situation, dass den Alten unablässig gesagt wird: „Wir brauchen das, was ihr gelernt habt, nicht.“Das ist ein ziemlicher Schlag. Die Tatsache, dass den alten Menschen unablässig gesagt wird, dass ihre Erfahrung und ihr Wissen nichts mehr wert sind, ist sicher auch ein Grund dafür, dass viele Menschen im Alter ihren Verstand an der Garderobe abgeben. Fehlt den alten Menschen also das Gebrauchtw­erden?

Weiter zu arbeiten, weiter zu denken und weiter zu lehren bietet sich an – aber nicht für jeden. Gut ist es, sich weiter in die Gesellscha­ft einzumisch­en und dabeizuble­iben. Viele ältere Menschen engagieren sich ehrenamtli­ch, das tut ihnen und der Gesellscha­ft gut. Ein Beispiel: Menschen, die Erfahrunge­n im Anbau von Nahrungsmi­tteln haben – egal ob auf dem Balkon oder im Garten – könnten ihr Wissen weitergebe­n. Denn das Thema „Wie ernähre ich mich?“wird eines der spannendst­en Themen der Zukunft sein, und da könnten die Alten einiges dazu beitragen. Neben Mut, Erinnerung­en und Erfahrunge­n zählt die Liebe zu Ihren Schätzen des Alters. Wie meinen Sie das?

Natürlich kann man von den Alten auch viel über den Umgang mit Beziehunge­n lernen. Wenn man auf das Geflatter der jungen Leute schaut, wie sie heute mithilfe von Apps wie Tinder versuchen, eine verlässlic­he Beziehung zu bekommen, dann könnte man da sicher etwas von der älteren Generation lernen. Wie habt ihr das früher gemacht? Welche Konflikte gab es? Welche Werte waren wichtig? Das könnte zwischen Jung und Alt mal wieder zum Thema werden.

Fühlen Sie sich selbst eigentlich alt?

Wenn ich in meinen Pass gucke, dann wundere ich mich, dass ich bald 80 werde. Mein Lebensgefü­hl ist ein ganz anderes. Ich bin sehr offen für alles Neue, weil ich mir schon bewusst bin, dass es das letzte Mal sein könnte. Gegenwärti­gkeit ist das Geheimnis. Ich lebe viel mehr im jetzigen Moment.

Wären Sie gerne noch einmal jung?

Es gibt diese Augenblick­e, wo man sich wünscht, noch einmal 18 zu sein. Aber ich finde mich mit dem Alter, in dem ich mich befinde, ab. Es ist manchmal traurig, aber ich akzeptiere es.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Um es mit Leonard Cohen zu sagen, ich hoffe, dass der Abschied ein sanfter wird, vor allem hoffe ich, dass ich mich verabschie­den kann. Interview: Claudia Kneifel O

Die Weisheit der Alten. Sieben Schätze für die Zu kunft. Herder Verlag, 216 Seiten, 25 Euro.

78, Theologe, arbeitete als Pfarrer und ist Professor für Soziologie an der Justus Liebig Universitä­t in Gießen

 ?? Foto: Universitä­t Bologna, dpa ?? Bäume werden dicker, Menschen werden weiser: Mit jedem Lebensjahr, sagt Autor Reimer Gronemeyer, wachsen wir innerlich.
Foto: Universitä­t Bologna, dpa Bäume werden dicker, Menschen werden weiser: Mit jedem Lebensjahr, sagt Autor Reimer Gronemeyer, wachsen wir innerlich.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany