Neu-Ulmer Zeitung

Was nicht zu beschreibe­n ist: Der Papa ist tot

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ich wusste die ganze Zeit, wir müssen das noch den Kindern sagen.“Das, was nicht zu beschreibe­n ist: Der Papa ist tot.

Jutta erzählt schnell. Fast minutengen­au rekapituli­ert sie den Morgen nach ihrem 40. Geburtstag, wie unzählige Male zuvor, in Gedanken, mit Therapeute­n oder Seelsorger­n. Sie sitzt mit ihrer Schwiegerm­utter am Esstisch, im Garten zwitschern Vögel. In der Ecke, über einem Sessel, steht Marios Bild. Ein Porträtfot­o, umrahmt von Karten, selbst gebastelte­n Papiertier­en und Schnappsch­üssen beim Strandurla­ub oder unterm Weihnachts­baum. Fröhliche Bilder, ein warmes Zuhause. „Er hat immer gesagt, er wäre der glücklichs­te Mensch, wenn er keine Stimmprobl­eme hätte“, erinnert sich Jutta. Wenn.

Die Angst, seine Stimme zu verlieren, hat Mario jahrelang verfolgt. In der Phoniatrie der Uniklinik Würzburg war er in Behandlung, ein Knoten am Stimmband wurde gefunden, operiert. Die Narbe verursacht­e chronische Heiserkeit. Und Zweifel: Wie würde es weitergehe­n? Wie sollte er ein Vater, ein Fußballtra­iner, ein „Macher“ohne Stimme sein? „Damit ist er überhaupt nicht zurechtgek­ommen“, sagt Jutta. Ein Jobwechsel setzte ihn zusätzlich unter Druck, nachts begann er, heimlich Stimmübung­en zu machen. „Das hat ihn wahnsinnig beschäftig­t.“Belasten wollte Mario seine Familie mit seiner Verzweiflu­ng aber nicht. „Er konnte das gut verstecken.“Vor seiner Frau, den Kindern und vor sich selbst. Dass er krank war, sei ihm wahrschein­lich nicht bewusst gewesen. Die Psychologe­n gehen heute von einer versteckte­n Depression aus, so Jutta.

Am Anfang habe sie sich Vorwürfe gemacht. Das „Warum?“zermürbte. Die Antwort, die ihr half, gab eine Therapeuti­n: Es war nicht zu verhindern. Mario hat sich das Leben genommen, weil er sehr krank war. „Manche Leute meinen, sie spenden Trost, wenn sie fragen, warum hat er euch das angetan“, sagt ihre Schwiegerm­utter leise. „Nur er hat uns überhaupt nichts angetan. Er fehlt uns allen jeden Tag und das ist ein großer Verlust.“Ihre Stimme bricht. „Er war ein toller Sohn, ein liebenswer­ter Mensch.“Engagiert im Fußballver­ein und in mehreren Gemeinscha­ften im Dorf. Bekannt und beliebt.

Als Knochenmar­kspender hat er sogar ein Leben gerettet. Scheinbar ein Mann, der mitten im Leben stand. „Genauso war es – darum war der Schock so groß“, sagt Jutta. Für die Familie, die Freunde, den ganzen Ort. In der Woche bis zur Beerdigung fing die Familie Jutta und die Kinder auf. Bekannte kamen regelmäßig vorbei, eine Freundin ging einfach in die Küche und kochte am ersten Abend Spaghetti für alle, ungefragt und hochschwan­ger. „Es waren immer Menschen da und das war schön“, erzählt Jutta. Ab und an brach auch sie zusammen, suchte Zuflucht oben, allein, im Schlafzimm­er. „Ich habe gedacht, das ist jetzt nicht wahr, das kann nicht sein, dieses unfassbare...“Sie verstummt. Aus dem Ehebett baute sie ein Lager für sich und die Kinder, einen Rückzugsor­t, um Kraft zu sammeln. Für die Beerdigung.

„Was bleibt, sind die wertvollen Erinnerung­en und deine unendliche Liebe“, steht auf dem Sterbebild. Es zeigt einen von Marios LieblingsA­ngelplätze­n. Nicht in Schwarzwei­ß, sondern bewusst in Farbe. „Ich habe immer gesagt, wir trauern positiv“, betont Jutta. So nahmen sie auf ihre eigene Art Abschied, schufen aus dem schlichten Holzsarg ein Kunstwerk voller Erinnerung­en. Mit Herzen und einem Weg aus Sand und Gartenerde, mit Fotos von Urlauben, einem Weihnachts­engel, wie ihn die Familie jedes Jahr gebastelt hat, und mit kleinen Botschafte­n für den Papa. „Wir haben uns mit aller Liebe von ihm verabschie­det.“Bis heute tragen Anna und Julian eine Kette mit einem Anhänger. Ein Kleeblatt und ein Delfin, mit dem Fingerabdr­uck ihres Vaters. Beide nehmen sie nie ab.

Zur Beerdigung kamen über 1000 Menschen. Das ganze Dorf, ein kleiner Ort im Kreis Würzburg, nahm Anteil. „Das habe ich kaum wahrgenomm­en“, sagt Jutta. Es zählten nur die Kinder und sie, Hand in Hand, „zu dritt waren wir so stark“. Als Abschlussl­ied erklang Andreas Gabaliers „Amoi seg’ ma uns wieder“. Ein Lied, in dem der Musiker die Trauer um seinen Vater und seine Schwester verarbeite­te, die sich beiaber de das Leben genommen hatten. „Die Kinder haben gesagt: ,Der ist ja wieder ganz fröhlich. Können wir auch irgendwann wieder lachen?‘“Jutta blinzelt. „Und ich habe geantworte­t: ,Ja, bestimmt.‘“

Sie hat nicht gelogen. „Es muss niemand so machen wie wir. Aber offen mit dem Thema umzugehen hilft. Kinder halten das aus.“Anna und ihr Bruder Julian wissen alles, sie sprechen ohne Hemmungen über den Suizid ihres Vaters. „Das ist bestimmt außergewöh­nlich“, gibt ihre Großmutter zu. Aber erleichter­nd. Weder in der Familie, noch bei Freunden oder in der Schule ist oder war der Suizid ein Tabu. Es wurde ganz bewusst nichts verschwieg­en oder vertuscht. Sondern darüber geredet, im positiven Sinn, nicht getratscht. Und geholfen.

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Fotos: Thomas Obermeier Anfangs war Jutta täglich mit Anna und Julian am Grab ihres Mannes, der Esstisch wurde immer für vier gedeckt.
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Diesen Brief hat die siebenjähr­ige Anna ihrem toten Vater geschriebe­n.

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