Erdogan verschlägt es die Sprache
Der türkische Präsident kämpft vor den Wahlen am 24. Juni mit wachsenden Problemen: Die Wirtschaft schwächelt und die Opposition fasst Mut
Recep Tayyip Erdogan setzte gerade zu einer Tirade an, als es geschah. Bei einer Veranstaltung in Diyarbakir im türkischen Kurdengebiet wetterte der Präsident gegen die legale Kurdenpartei HDP, die er als politische Vertretung der PKK-Terrorgruppe bezeichnete – und hielt plötzlich inne. Wortlos starrte der 64-Jährige auf den Teleprompter, von dem er bis dahin seine Rede abgelesen hatte. Plötzlich fiel das Gerät aus. Eine lange Minute schwieg der mächtigste Mann der Türkei hilflos. Erst als der Schaden behoben war, ging es weiter im Text. Die Episode, die in sozialen Medien der Türkei für große Furore sorgte, versinnbildlicht Erdogans erstaunliche Schwächephase wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni: Er wirkt erstmals schwach und angreifbar. Die Opposition gewinnt inzwischen an Zulauf.
Noch bei Verkündung der vorgezogenen Wahlen im April trat Erdogan gewohnt siegessicher auf. Doch seitdem wachsen die Probleme für den Mann, der die Türkei seit 15 Jahren so geprägt hat wie vor ihm nur Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Die Wirtschaft, lange Zeit eine der Stärken von Erdogans Politik, zeigt deutliche Zeichen der Kri- Laut aktuellen Zahlen ist die Inflation binnen eines Monats von knapp elf auf 12,15 Prozent gestiegen, die türkische Währung Lira hat seit Jahresbeginn fast 20 Prozent an Wert verloren. In den kommenden Tagen wird eine weitere Zinsanhebung durch die Zentralbank erwartet – gegen Erdogans ausdrücklichen Willen. All dies sind Vorgänge, die die Türken schmerzlich zu spüren bekommen – schließlich wird das tägliche Leben immer teurer.
Der Opposition ist unterdessen etwas gelungen, was noch vor wenigen Monaten als undenkbar galt: In immer mehr Teilen der Bevölkerung im Land macht sich eine Wechselstimmung bemerkbar, die es so seit anderthalb Jahrzehnten nicht gegeben hat. Muharrem Ince, Präsidentschaftskandidat der säkularistischen Partei CHP, treibt Erdogan mit Vorwürfen vor sich her, die von vielen Türken geteilt werden: Ince thematisiert die frühere Zusammenarbeit des Präsidenten mit dem islamischen Geistlichen Fethullah Gülen, der heute von Erdogan als Landesverräter verdammt wird; er wirft Erdogan Prunksucht, Machthunger und eine verfehlte Finanzpolitik vor; er beschreibt den 64-jährigen Staatschef als jemanden, dessen Zeit abgelaufen ist. Ein Politiker, der seine Rede nur von einem Bildschirm ablese, könne die Pro- bleme des Landes nicht lösen, sagte Ince über Erdogans Panne mit dem Teleprompter.
Auch außerhalb der politischen Arena erkennt die Opposition Anzeichen für die Bereitschaft der Türken, neuen Leuten eine Chance zu geben. Die Mitglieder von Fenerbahce Istanbul, einem traditionsreichen Fußballklub der BosporusMetropole, wählten den langjährigen Vereinschef Aziz Yildirim ab, der laut Medienberichten von Erdogan unterstützt wurde. Neuer Mann an der Spitze des Klubs ist Ali Koc, Spross einer Unternehmerfamilie, die sich bei den Gezi-Unruhen vor fünf Jahren durch Unterstützung für die Demonstranten den Zorn des Präsidenten zugezogen hatte.
Gut zehn Tage vor der Entscheidung lassen mehrere Umfragen einen Sieg der Opposition bei der Parlamentswahl möglich erscheinen. Bei der ebenfalls am 24. Juni stattfindenden Präsidentschaftswahl könnte Erdogan laut einigen Befrase. gungen unter 50 Prozent der Stimmen bleiben, was eine Stichwahl am 8. Juli erforderlich machen würde. Die Opposition hat bereits Beratungen darüber begonnen, wie nach dem Wahltag der Übergang zu Erdogans geplantem Präsidialsystem wieder rückgängig gemacht werden kann. Noch hat Erdogan Zeit, um das Blatt zu wenden. Nach wie vor ist er der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes, viele Wähler trauen ihm am ehesten die Lösung der Wirtschaftsprobleme zu. Zudem profitieren der Präsident und seine Partei vom geltenden Ausnahmezustand – der Staatsapparat sowie die allermeisten Medien stehen auf ihrer Seite; der Staatssender TRT lehnte kürzlich die Ausstrahlung eines Wahlspots von Inces Partei CHP ab, in dem eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen gefordert wurde. Ein weiterer Präsidentschaftskandidat, der frühere HDPChef Selahattin Demirtas, muss seinen Wahlkampf aus der Gefängniszelle heraus führen.
Dennoch ist die Regierung verunsichert. Die Regierungspartei AKP schwankt zwischen öffentlich zur Schau getragenem Selbstbewusstsein und wilden Verschwörungstheorien: In den USA und in Europa laufe eine Kampagne, um Erdogan von der Macht zu verdrängen, behauptete ein Parteisprecher.
Die sicheren Häfen waren nah. Doch nach der Weigerung Italiens, dem internationalen Rettungsschiff Aquarius das Anlegen zu erlauben, bereiteten sich die Retter am Dienstagnachmittag auf eine lange Reise zum spanischen Hafen Valencia vor. Rund 700 Seemeilen oder 1300 Kilometer sind es bis nach Valencia, wo die Aquarius und zwei italienische Begleitschiffe Ende der Woche erwartet wurden. Spaniens neue Regierung hatte den Hafen Valencia angeboten, „um eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden“. Die Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée kündigten an, dass sich ihr Rettungsschiff nun tatsächlich auf den Weg nach Valencia machen werde.
Auf dem Schiff, das sich seit Sonntag zwischen Malta und der italienischen Insel Sizilien in internationalen Gewässern aufhielt und auf weitere Anweisungen wartete, befanden sich insgesamt 629 Migranten aus 20 Ländern. Darunter waren elf kleine Kinder, 123 Minderjährige ohne Begleitung und 80 Frauen, von denen sieben schwanger waren.
Die italienische Seenot-Einsatzzentrale hatte der Aquarius das Ansteuern italienischer Häfen verboten. Dahinter steht ein harter AntiMigranten-Kurs der neuen italienischen Regierung, die aus der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und der fremdenfeindlichen Lega gebildet wird.
„Die Menschen an Bord sind erschöpft“, berichtete am Dienstag David Beversluis, einer der Ärzte an Bord der Aquarius. Am Dienstagmorgen war das Hilfsschiff von der italienischen Küstenwacht mit Trinkwasser und Nahrungspaketen versorgt worden. Da das Boot völlig überfüllt war, sollten 500 der 629 Migranten an Bord auf zwei Schiffe der italienischen Küstenwache und der italienischen Marine umsteigen. Es war geplant, dass die drei Schiffe dann im Konvoi Kurs auf Valencia nehmen sollten.