Neu-Ulmer Zeitung

Gesalzene Fische und bunte Bonbons, das mögen sie

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spricht. Weil ihre Eltern Mitte der 90er Jahre aus Usbekistan nach Bayern kamen und hier als sogenannte Spätaussie­dler die deutsche Staatsange­hörigkeit bekamen.

An Evelyns Familienge­schichte lassen sich einige Jahrhunder­te russischer Historie nacherzähl­en. Von Zaren und Kaisern, die deutsche Offiziere, Arbeitskrä­fte oder Siedler anwarben. Von Deutschen, die die Einladung annahmen oder vor Hungersnöt­en in den Osten flohen. Vom Leben einer deutsch sprechende­n Minderheit, die erst willkommen, dann geächtet, unterdrück­t und vertrieben wurde. Und schließlic­h vom Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n und der Rückkehr Hunderttau­sender nach Deutschlan­d, die in ihrem Pass den Zusatz „deutsch“stehen hatten.

Nach Bayern kamen Mitte der 90er Jahre mehrere Zehntausen­d Spätaussie­dler jährlich – viele in der Hoffnung, im Land ihrer Vorfahren erfolgreic­h, wohlhabend, glücklich zu werden. Der Großteil landete jedoch zunächst in Sozialsied­lungen, war von Integratio­nshilfen des Staates abhängig, fand nur schwer Anschluss an die deutsche Bevölkerun­g. Es bildeten sich Parallelge­sellschaft­en – Stadtviert­el, in denen mehr russisch als deutsch gesprochen wird, in denen Fahrschule­n den „Führersche­in auf russisch“anbieten und Supermärkt­e fast ausschließ­lich russische Produkte.

Gesalzene Fische. „Ganz wichtig!“, sagt Helena Zulauf und lacht. Und eingelegte Tomaten. Gefüllte Teigtasche­n und Bonbons – jedes einzeln in buntem Glitzerpap­ier verpackt. Tausende. Zwei ganze Regale voll. „Die Russen mögen das“, sagt Zulauf und blickt aus dem Büro in „ihren“Mix-Markt. Sie leitet zwei dieser auf russische Produkte spezialisi­erten Läden in Augsburg. Einen dritten betreibt ihr Neffe. Das Geschäft läuft gut, sagt sie. Schon immer. Bereits als 2004 der erste Markt eröffnet wurde, sei der Andrang groß gewesen.

Wenig verwunderl­ich, trägt das Univiertel aufgrund der Bewohnerst­ruktur im Volksmund doch den Beinamen „Klein-Moskau“. Auch 25 Jahre nach der großen Zuwanderun­gswelle aus der ehemaligen Sowjetunio­n leben hier noch viele der nach Augsburg gekommenen Russen. „Früher war der Supermarkt auch ein Treffpunkt für die Menschen aus Russland. Da wurde in den Gängen viel geredet, gelacht, diskutiert“, erzählt Helena Zulauf mit deutlich hörbarem Akzent.

Sie selbst kam 1996 mit 26 Jahren nach Deutschlan­d. In Kasachstan geboren, hatte sie zuletzt in Jakutien gelebt – dort habe es fast keine Arbeit und kaum Perspektiv­en gegeben. Der Traum von einem besseren Leben und das Angebot der Bundesrepu­blik, Nachfahren von in der Sowjetunio­n verfolgten Deutschen die deutsche Staatsange­hörigkeit zu geben, brachten sie und ihre Familie schließlic­h nach Augsburg. Dort lernte sie Deutsch, die vielen Landsleute in der Stadt erleichter­ten ihr die Eingewöhnu­ng.

2017 wurde noch ein Mix-Markt in der Stadt eröffnet. Längst kämen nicht mehr nur Russen zum Einkaufen. „Wir sind immer internatio­naler geworden“, sagt die 47-Jährige. Der Supermarkt hat seine Bedeutung als Treffpunkt der Russland- offenbar verloren. Zulauf wertet das als ein Zeichen dafür, dass ihre Landsleute mittlerwei­le „angekommen“seien.

Es ist Samstagnac­ht, kurz nach 1 Uhr. Vor der Eingangstü­r des Club Nightlife in Senden (Landkreis Neu-Ulm) stehen knapp ein Dutzend Partygäste im schummrige­n Licht der Straßenlat­erne und warten geduldig auf den Einlass. Von drinnen dröhnt der Bass der Musikanlag­e. An diesem Abend findet hier die „Black and Russian“-Party statt. Zu hören gibt es ausnahmslo­s BlackMusic und Russian House. Bei den Gästen, die sich auf der Tanzfläche drängen, kommt vor allem Zweiteres gut an. Jedes Mal, wenn DJ Prezzplay Lieder von Musikern wie DJ Vitalik Vitamin spielt, singen die Partygäste mit. In Moskau, sagt ein Besucher, sei das sehr angesagt. Auf Russisch ruft der DJ immer wieder ins Mikrofon und stachelt die Leute an. Aus der feiernden Menge hallt es auf Russisch wider. Am Rand der Tanzfläche sitzen in kleinen Logen junge Männer in weißen Hemden und beobachten das Treiben auf der Tanzfläche. Auf vielen Tischen stehen Wodka-Flaschen. Einige davon sind fast leer. An den Wänden hängen Plakate und laden in kyrillisch­en Buchstaben zu den Partys der nächsten Monate ein.

Draußen stöckeln zwei junge Frauen Richtung Parkplatz. Sie brauchen ein bisschen Pause vom Tanzen und frische Luft. Irena Vasilev, 28, und Alissa Belan, 27, sind in Kasachstan geboren und leben heute nahe Memmingen. „Bei uns haben mittlerwei­le alle Russendisk­leinen cos zu, deswegen kommen wir ab und zu hierher“, erklärt Vasilev. Belan fügt an: „Es ist einfach schön, dass hier unsere Musik läuft.“

Mit zwölf Jahren kamen sie nach Deutschlan­d. Bei beiden erhofften sich die Eltern eine bessere Zukunft. Doch der Anfang in der neuen Heimat war nicht leicht. „Absolut nicht“, sagt Irena Vasilev mit Nachdruck. „Wenn du als Ausländer in eine Klasse voller Deutscher gesteckt wirst und die Sprache nicht sprichst, findest du keine Freunde.“Es habe lange gedauert, bis sie Anschluss gefunden habe. Mittlerwei­le fühle sie sich aber gut integriert. Bei der Fußball-WM feuert sie die russische Mannschaft an. Und die deutsche. „Schließlic­h leben wir ja in Deutschlan­d. Da müssen wir unser Team auch unterstütz­en.“

Russland, Deutschlan­d – was ist Heimat? Und wann fühlt man sich integriert? Integratio­n – ein Wort, das Juri Heiser nur ungern verwendet. Er spricht lieber vom Prozess des „Einlebens“. Im Fall der Russen aus Deutschlan­d sei dieser schon weit fortgeschr­itten und in spätestens 20 Jahren großteils abgeschlos­sen, glaubt er. Heiser tut viel dafür. Er engagiert sich in der Landsmanns­chaft der Deutschen aus Russland und vertritt deren Belange auch im Augsburger Stadtrat. Dort sitzt er seit 2011 für die CSU. Der 63-Jährige ist 1991 aus Kasachstan nach Deutschlan­d gekommen und stieß auf Probleme, die viele Einwandere­r damals hatten und noch heute haben. In Russland machte er eine Ausbildung zum Maschinenb­autechnike­r, studierte eine Art Bedeutsche­n triebswirt­schaftsleh­re. „In Deutschlan­d wurde das Studium aber nicht anerkannt“, erzählt Heiser. Ihm kam seine technische Ausbildung zugute. Er schaffte es, einen Job bei MAN zu bekommen. 24 Jahre lang arbeitete er schließlic­h für den Maschinenb­auer, war in Augsburg unter anderem für den osteuropäi­schen Markt zuständig. Heute ist er für die Regierung von Schwaben in der Verwaltung der Gemeinscha­ftsunterkü­nfte für Flüchtling­e tätig.

Längst ist Deutschlan­d zu seiner Heimat geworden. Gleichzeit­ig sagt Heiser: „Ich liebe Russland.“Obwohl das Land seinen Vorfahren Schlimmes angetan hat. Obwohl er dorthin nicht wieder zurück möchte. Obwohl er „kein Putin-Fan“sei.

Letzteres sei unter Russlandde­utschen keine Selbstvers­tändlichke­it, sagt Heiser. Seit geraumer Zeit gebe es gerade unter Jüngeren die Tendenz, den russischen Präsidente­n zu verehren. „Er regiert, entscheide­t, bietet den USA die Stirn und reitet mit nacktem Oberkörper durch die Wildnis. Das finden viele gut“, erzählt Heiser. Gleichzeit­ig gebe Angela Merkel das Bild einer schwachen Politikeri­n ab. Das störe viele. In der Vergangenh­eit gingen mehrfach und bundesweit Russlandde­utsche auf die Straße und protestier­ten gegen die Flüchtling­spolitik der Bundesregi­erung.

Einwandere­r demonstrie­ren gegen Einwandere­r? Paradox, wofür es jedoch Gründe gibt. Viele Russlandde­utsche fühlen sich nicht als Einwandere­r, sondern als Rückkehrer. Viele von ihnen haben das Gefühl, dass sie bei ihrer Ankunft in den 90er Jahren auf sich alleine gestellt waren, während die Flüchtling­e heute deutlich mehr Unterstütz­ung erhielten. Viele würden „die schnellen gesellscha­ftlichen Veränderun­gen der letzten Zeit als bedrohlich empfinden“, erklärt Reiner Erben, Migrations­referent im Augsburger Rathaus. „Das macht die Deutschen aus Russland ganz aktuell zur Zielgruppe politisch extremer

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Foto: Böhm Regale voller Bonbons – das lieben Rus sen, sagt Helena Zulauf.

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