Der Schrecken in uns
Horrorfilmen haftete bei aller heimlichen Faszination lange ein Schmuddel-Image an. Doch das Genre ist mit Filmen wie nun „Hereditary“längst erwachsen geworden – und lehrt uns das Fürchten
Auf Dauer nicht da hinzuschauen, wo es wehtut, tut selten gut. Und als eine frühe Übung dieser therapeutischen Binse über den Umweg des Fiktionalen könnte man – zumindest seit einigen Jahrzehnten – den Horrorfilm bezeichnen. Wenn beispielsweise ein paar übel und in der Art von Iltissen ausdünstende Pubertierende auf der elterlichen Couch sitzen (sturmfrei!), sich zeitweise und abwechselnd immer wieder unter den Couchkissen verstecken und im Anschluss an, sagen wir, „Tanz der Teufel“nur gemeinsam und mit einem Besen bewaffnet in den Keller trauen – um sich dann rasch die auf diese Mutprobe hin dringend benötigten Biere zu holen.
Doch genug der Jugenderinnerungen. Zumal einem damals nicht im Entferntesten eingefallen wäre, dass es neben dem schaurigen Schauwert ja noch um etwas ganz anderes gehen, dass es einen Mehrwert geben könnte, etwa und um die Gebrüder Grimm zu zitieren: auszuziehen und das Fürchten zu lernen. Und vielleicht ja bestenfalls sogar noch das eine oder andere darüber hinaus.
Allen, die nun bildungsbürgerlich-besorgt die Nase rümpfen: Ja, es gab und gibt viel Schund auf diesem Markt. Und noch mal ja, manches ist schwer erträglich. Aber ein generelles Verdikt ist gleichwohl nicht angebracht. Was man schon an einem der ersten Vertreter der Gattung beziehungsweise der Mutter aller Horrorfilme, nämlich „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“(Deutschland 1922) von Friedrich Wilhelm Murnau sehen kann. Die Dracula-Verfilmung, ohne die entsprechende US-Produktionen in den 30er, 40er Jahren nicht denkbar gewesen wären, gilt heute als ein Klassiker des Weimarer Kinos, in dem die Unübersichtlichkeit, Instabilität und Gewaltanfälligkeit der Zwischenkriegszeit aufscheint. Der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer sah in dem Vampir sogar bereits die „Tyrannenfigur“, die von Caligari (nach dem Stummfilm von Robert Wiene) unmittelbar zu Hitler führt. Das mag man überspannt finden, zeigt aber, dass auch das Horrorkino im besten Fall etwas aussagt über die jeweilige Zeit und Gesellschaft. Was es allerdings von anderen Genres unterscheidet, ist das Vehikel, mit dem es das tut: nämlich die Furcht.
Die besorgten Bildungsbürger mögen sich da vielleicht an Aristoteles erinnern, für den eines der wesentlichen Mittel der Tragödie das „Schaudern“darstellt. Ziel ist natürlich die Katharsis, also die Läuterung, oder, moderner ausgedrückt: die Befreiung von psychischen oder emotionalen Konflikten, Spannungen. Dass dieses Schaudern aber noch vor jeder reinigenden auch eine ästhetische, durchaus lustvolle Erfahrung ist, kann vielleicht am ehesten mit Kant verstanden werden. Der Philosoph schreibt in seiner „Kritik der Urteilskraft“: „In Beziehung auf das Gefühl der Lust ist ein Gegenstand entweder zum Angenehmen, oder Schönen, oder Erhabenen, oder Guten (schlechthin) zu zählen.“
Und das Erhabene ist nun die Kategorie, die im Zusammenhang mit dem Schauder interessiert, denn: „Das Wohlgefallen am Erhabenen der Natur ist daher auch nur negativ (stattdessen das am Schönen positiv ist), nämlich ein Gefühl der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft durch sie selbst (...) Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer (...) ergreift, ist, bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um die Macht eben desselben Vermögens zu fühlen.“Mit anderen Worten: Etwas schaudert, gruselt, ja, überwältigt mich und übersteigt meine Vorstellungskraft (bei Kant mangels zeitgenössischer Horrorfilme die Natur, „tiefe Schlünde, tobende Gewässer“), durch die sichere Distanz des Kino- oder Fernsehsessels gerinnt daraus dann aber im fast selben Moment so etwas wie ein ästhetisches Vergnügen.
Das mag sich nun gerade angesichts von Horrorfilmen für manchen komisch anhören, beschreibt aber nur den grundlegenden Mechanismus. Klar ist aber auch, dass man als Zuschauer – je nach individueller Genre-Erfahrung, Toleranz und Schmerzgrenze – auf diese Weise kann man mit Fug und Recht abscheulich finden.
Was man jedoch – umso erfreulicher – beobachten kann: Dass sich das Genre, dem lange ein Schmuddel-Image anhaftete, seit geraumer Zeit öffnet für künstlerisch anspruchsvollere Ansätze (etwa durch Guillermo del Toro). Und sich nach Kapitalismus und Gesellschaft mittlerweile mit dem Thema Familie den letzten Rückzugsort und Stabilitätsanker vornimmt, wovon Filme wie „The Babadook“oder jetzt eben und von fulminanten Kritiken begleitet „Hereditary“zeugen. Die beiden Beispiele unterscheidet von oft nur auf den reinen Schau(er)wert setzenden Produktionen, dass sie des Gruselfaktors eigentlich fast gar nicht bedurften. Sie sind erschreckend genug, weil sie aufzeigen, was aus elterlicher Fürsorge werden kann (schon in „A Nightmare on Elm Street“bekanntlich das Monster Freddy Krueger) und wie Geheimnisse und Unausgeprochenes Familien einholen, heimsuchen können.
Das mag viele Fans, die lediglich auf drastische Effekte hoffen, langweilen, aber die Formel guter, zeitgenössischer Horrorfilme beschreibt Erfolgsproduzent Jason Blum („Get Out“, „Split“) so: Kurz bevor ein Film beendet ist, lasse er stets sämtliche Gruselelemente herausnehmen, um zu schauen, ob er auch so als Drama funktioniert. Und was ist eine bessere Bühne für ein Drama als – genau, die Familie.
Es sind – wie die New York Times dieser Tage schrieb – keine Vampire, Zombies, Werwölfe, vor denen wir abgeklärten Erwachsenen uns noch fürchten, es sind vielmehr die Schatten, Geister dessen, was wir verloren haben. Oder nie erreicht.
Denn der größte Schrecken wohnt eben in uns selbst. Deswegen sollte man hinschauen. Sonst bekommt man es womöglich irgendwann mit sich zu tun – und erst recht der Angst. Das Lebenswerk von Joyce Carol Oates erstaunt die Autorin selbst. „Die Liste meiner Bücher ist überwältigend“, schrieb Oates einmal. „So viele Bücher!“Mehr als 100 sind es inzwischen: Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichtensammlungen oder Werke unter Pseudonym. Die Ideen kommen der zarten Frau mit der großen Brille beim Joggen, der Rest ist „harte Arbeit“, acht Stunden pro Tag. Am heutigen Samstag wird Oates, die seit langem als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis gilt, 80 Jahre alt – und schreibt weiter. Auf Deutsch erschien zuletzt im Mai Oates’ neuer Roman „Der Mann ohne Schatten“. Geboren wurde die Autorin 1938 in Millersport im US-Bundesstaat New York als Tochter eines Fabrikarbeiters. In fast allen ihren Werken entmythisiert die Autorin, was andere den „amerikanischen Traum“nennen.