Neu-Ulmer Zeitung

Es fährt ein Bus nach Nirgendwo

Kabarettis­t Jochen Malmsheime­r erlebt eine Schreckens­reise mit Rentnern in Beige, hofft auf eine bessere Zukunft – und hat kurz vor Schluss vor Lachen selbst Tränen in den Augen

- VON SEBASTIAN MAYR

Ein schöner Zufall, dass der Weg aus dem Ruhrgebiet nach Venedig an Ulm vorbeiführ­t. Jochen Malmsheime­r passiert das Ulmer Zelt auf seiner Schreckens­fahrt im Bus also nur mit ein paar Kilometern Entfernung. Witze über Städte und ihre Namen gehören fest ins Programm des in Essen geborenen Kabarettis­ten. Die über Heidenheim und die Brenz zünden in Ulm ganz besonders. Und irgendwo hier in der Gegend kommt Malmsheime­rs bizarre Reise zu ihrem Höhepunkt.

Der Wortkünstl­er aus dem Pott ist der wahrschein­lich witzigste Vorleser der Republik. Malmsheime­r baut Sprachunge­tüme, verschraub­t Belanglose­s zu bedeutsam klingenden Festreden und wirft seinen Zuhörern dann eine simple Weisheit grob vor die Füße. Schon im Fernsehen, in der ZDF-Sendung „Neues aus der Anstalt“erntete Malmsheime­r Lachsalven. Auch die Besucher im Zelt lieben ihn.

Dabei ist gar nicht alles nur lustig. Was Malmsheime­r da albern verpackt vorträgt, ist ihm wichtig: Dass Lektüre mehr ist als die Aufforderu­ng, an einer Pforte zu lecken. AfD-Politiker nennt er „Hohlmantel­geschosse“, Rassismus, Gefühllosi­gkeit und Intoleranz bezeichnet er als Zeichen von Dummheit. Malmsheime­r will, dass die Menschen sich bilden, klüger werden, lesen, weltoffen sind. Die ernsten Botschafte­n und die Keilerei gegen Rechtspopu­listen bescheren dem 56-Jährigen genauso viel Beifall wie seine Späße über Rentner in Funktionsj­acken.

Mit einer derartigen Reisegrupp­e ist Malmsheime­r unterwegs, vom Ruhrgebiet an die Adria, weil seine Frau dorthin möchte. Es ist ein Szenario, dass den Zuhörer glauben lässt, er sei selbst mit an Bord – und mit ihm die Fremdscham. Während draußen Siegen, Gießen, Heiden- heim vorbeizieh­en, durchwande­rn Bilder, Ideen und Erinnerung­en Malmsheime­rs Kopf. Manchmal wühlt er in der Fernsehges­chichte seiner Kindheit, manchmal springt er ins hohlköpfig­e TV-Programm der Gegenwart. Am stärksten ist Malmsheime­r beim Beobachten des Alltäglich­en. Die Rentner in Beige, die Enge des Busses, der Tank des Bord-WCs, Kartoffels­alat, Dosenbier, Ehestreit. Der Mann im Karohemd überspitzt alles grenzenlos und bleibt dabei trotzdem erschrecke­nd nah an dem, was der Alltag tatsächlic­h so bietet.

„Sie müssen nicht immer klatschen, wenn Sie etwas verstanden haben“, sagt Malmsheime­r am Anfang. Seit rund zwei Jahren ist der Kabarettis­t mit seinem Programm „Dogensuppe Herzogin“unterwegs. Wer wirklich alles verstehen will, muss es wohl mehr als einmal ansehen. So rasant springt der Sprachakro­bat von Idee über Wortspiel zu Unverschäm­theit und zurück. Langweilig wird es nie. Wer den Anschluss verpasst, gewinnt ihn bei der nächsten Wendung zurück. Auf seiner Schreckens­fahrt durchlebt Malmsheime­r einen wirren Traum, irgendwo hier auf der A7. Odysseus, Marco Polo, Robin Hood und Martin Luther sitzen mit im Bus. Sie alle gemeinsam kommen zu dem Schluss, den der Kabarettis­t ins Publikum schreit: Lesen!

Der heimliche Höhepunkt im Zelt, wo die NUZ den Auftritt des Wortkünstl­ers präsentier­te, ist ein anderer: Der reisende Malmsheime­r schlägt sich vor Schreck eine Zahnkrone ab, als er Long John Silver aus Stevensons „Schatzinse­l“neben sich sitzen sieht. Und als der echte Malmsheime­r wieder ins Mikrofon spricht, übersteuer­t es – als würde wirklich Luft durch die Zahnlücke pfeifen. Malmsheime­r hat vor Lachen selbst Tränen in den Augen. „Ich hab schon ’ne halbe Seite vorher Schiss vor der Stelle“, gesteht er. Die Sommeraben­de locken nicht nur das Publikum ins Freie, sondern auch das Philharmon­ische Orchester: In der besonderen Atmosphäre des Neu-Ulmer Glacis-Parks gibt es wieder Klassik für alle – bei freiem Eintritt. Am Mittwoch, 27. Juni, entführen die Philharmon­iker ihre Zuhörer musikalisc­h unter anderem unter die glühende Sonne Spaniens und in den Wüstensand des Orients. Ab 19 Uhr erklingen auf der Veranstalt­ungsbühne Werke von Gioachino Rossini, Giuseppe Verdi, Camille Saint-Saëns, Georges Bizet und Jerónimo Giménez. Dirigent des Glaciskonz­erts ist Joongbae Jee, Solistin I Chiao Shih, Moderatur Benjamin Künzel. (az) Im Rahmen ihres Sommerprog­ramms fährt die Volkshochs­chule im Landkreis Neu-Ulm am Mittwoch, 25. Juli, zu den Bregenzer Festspiele­n. Gespielt wird auf der Seebühne die Oper „Carmen“von Georges Bizet. Sie wurde zur Zeit ihrer Uraufführu­ng 1875 in Paris als problemati­sch empfunden – zu exotisch, zu vulgär. Heute gehört Carmen zu den beliebtest­en und meist aufgeführt­en Werken des Opernreper­toires. (az) O

Weitere Informatio­nen und Anmeldung bei der VHS Geschäftss­tel le unter Telefon 07303/41200 oder über vhs neu ulm.de

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Foto: Felix Oechsler Nie um ein Wortspiel verlegen: Jochen Malmsheime­r bei seinem Auftritt im Ulmer Zelt.

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