Neu-Ulmer Zeitung

Das alles hat was von einer Wundertüte

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„Wenn ich das wüsste“, antwortet sie. Dokumentie­rt ist das nicht. Man weiß nur, was die Delinquent­en alles ausgefress­en hatten. Natürlich war Mord dabei, aber auch Ehebruch, Diebstahl, ja sogar auf Sex mit Tieren stand die Höchststra­fe.

Ahnenforsc­hung hat was von einer Wundertüte. Da fängt man halt an, im Fall von Sabine Scheller mit Anfang 20, beflügelt von Erzählunge­n einer Großtante einige Jahre zuvor. Stöbert Stunden, Tage, Wochen in Archiven. Macht Fortschrit­te mal in Formel-1-Geschwindi­gkeit, mal im Zeitlupent­empo. Endlose Ketten von Namen, Berufen und Geburtsdat­en. Stößt auf dies und das, auf ein paar Lehrer, eine bäuerliche Linie, auf Pfarrer und einen Missionar in Indien. Liest dann irgendwann das Wort: Scharfrich­ter-Witwe. Und es beginnt, richtig spannend zu werden.

Scharfrich­ter – so blutig und gruselig das alles klingt, was man mit dem Begriff verbindet, man kann sich seiner Faszinatio­n dann doch nicht entziehen. Scheller sagt: „So grausam die Zeit auch war, mich gruselt es nicht, wenn ich Geschichte­n darüber lese.“Zumal zum Beruf Scharfrich­ter mehr gehörte, als man gemeinhin annimmt. „Kommen Sie mit“, sagt sie, „fahren wir dorthin, wo alles anfing.“

Mit den Scharfrich­tern war das so, beginnt sie zu erzählen, als sie ihren Wagen durch die engen Gassen Oettingens steuert. Es war ein Lehrberuf mit Meisterprü­fung. Da er als „unehrlich“galt und die Söhne von Scharfrich­tern kaum Chancen hatten, einen anderen Job zu ergreifen, lernte der Lehrling das Handwerk meist beim Vater und danach bei einem anderen Verwandten. So entstanden ganze Dynastien.

Erstmals erwähnt wurde „der mit der Schärfe des Schwertes Richtende“im Jahr 1276 – im Stadtbuch von Augsburg. Später nannte man ihn auch Henker oder Nachrichte­r. Einer, zu dessen Aufgaben „peinliche Befragunge­n“(auf gut Deutsch Folter), Bestrafung­en und eben Hinrichtun­gen gehörten, wie man gerade im Heimatmuse­um auf einer Erklärtafe­l lesen konnte.

Nach fünf Minuten Fahrt kommt Schellers Mercedes im Innenhof eines gepflegten, in Grün und Weiß gestrichen­en Anwesens zum Stehen. Das ist also der Scheller-Hof. Hier zog 1765 Johann Michael Scheller ein, Sohn eines Scharfrich­ters aus Ingolstadt, nachdem er die Zusage für die freie Stelle als Oettinger Scharfrich­ter erhalten hatte. Hier wohnte auch Sohn Alois, eines von 15 Kindern. Er wurde später Nachfolger von Johann Michael – der letzte seines Fachs oben im Ries.

Bis heute ist der Hof in Familienbe­sitz. Alois Friedel, 67, Getränkehä­ndler, kariertes Hemd, Jeans und Schnauzbar­t, ist Sohn der SchellerNa­chfahrin Anneliese. Ein Mann mit Humor, wie er gleich unter Beweis stellt. „Was ich heute noch Knochen finde auf dem Hof“, fängt er an. „Egal, wo man buddelt.“

Knochen? Kopfkino. Das werden doch nicht… „Tierknoche­n“, schickt er mit einem Schmunzeln hinterher. „Das liegt daran“, springt ihm Cousine Sabine zur Seite, „dass der Scharfrich­ter nicht nur Todesurtei­le gegen Menschen vollstreck­t hat.“Die Scheller-Scharfrich­ter waren zugleich auch Wasenmeist­er, das heißt, für die Beseitigun­g von Tierkörper­n zuständig. Sie zogen beispielsw­eise Häute ab, die an Gerbereien gingen. Weil sie sich eh schon so gut mit Tieren auskannten, versorgten sie auch die Hunde und Pferde des Fürsten. Und dann setzt Sabine Scheller noch eins obendrauf.

Scharfrich­ter waren diejenigen, die Straftäter folterten – es musste ja ein Geständnis „erwirkt“werden, nur dann war eine Verurteilu­ng möglich. Folter aber nur bis zu einer gewissen Schwelle. Dann pflegten sie die Wunden der Delinquent­en – um diese schließlic­h wieder zu foltern. So erwarben sie erstaunlic­he medizinisc­he Kenntnisse. „Vielleicht“, sagt Scheller, „ist es ein Stück weit auch das, was mich an der Scharfrich­ter-Geschichte fasziniert.“Sie ist ja selbst in der Medizin zu Hause, als Krankensch­wester im Klinikum Kempten.

Das ist doch das Spannende, sagt Manfred Wegele, so etwas wie Mr. Ahnenforsc­hung in Bayern. „Dass man immer wieder auf neue Zusammenhä­nge stößt.“Der 68-Jährige aus Tapfheim bei Donauwörth leitet den Bayerische­n Landesvere­in für Familienku­nde und ist auch dessen Schwaben-Chef. Seine eigene Familienge­schichte ist voller überrasche­nder Verbindung­en. Sein Urgroßvate­r war Onkel des Mädchenmör­ders Jakob Wegele, der 1898 in Augsburg enthauptet wurde. Da ist die Story mit Rudolf Diesel, dem Erfinder des Dieselmoto­rs. Die Urgroßelte­rn seines Urgroßvate­rs waren auch Wegeles Vorfahren. Und dann musste Mr. Ahnenforsc­hung nur lange genug suchen, um eine gemeinsame Linie mit Sabine Scheller zu finden, irgendwann vor ein paar hundert Jahren.

„Man wird nie fertig“, sagt Wegele. Trotzdem fangen so viele Menschen mit dem Hobby an. Und schließen sich zusammen. Jahr für Jahr wächst die Bezirksgru­ppe um etwa 25 Leute. Derzeit sind rund 450 in der Region organisier­t. Solche Familienfo­rscher tüfteln nicht im stillen Kämmerlein. Sie vernetzen sich, der digitalen Welt sei Dank, via E-Mail oder Facebook und tauschen sich bei regelmäßig­en Treffen aus, die mancherort­s themengere­cht „Stammbaumt­isch“heißen.

Sabine Scheller fand irgendwann heraus, dass die Exekution mit dem Schwert unten auf dem Richtplatz an der Wörnitz nicht die einzige Methode war, derer sich die Scharfrich­ter bedienten. Also noch einmal ins Auto, auf einer schmalen Straße vorbei an der Oettinger Brauerei, durch eine wunderschö­ne Allee hinauf auf eine kleine Anhöhe. „Hier“, sagt sie und stoppt auf einem Parkplatz. „Wo jetzt das Feldkreuz ist, stand früher der Galgen.“

Der Galgen also auch noch. Von allen Seiten einsehbar. Je nach Delikt

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An diesem Ort am Rande Oettingens stand einst der Galgen.

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