Neu-Ulmer Zeitung

„Europa darf niemals eine Festung werden“

EU-Migrations­kommissar Avramopoul­os erklärt, wie die Europäisch­e Union illegale Zuwanderun­g eindämmen will und zugleich wieder zum System der offenen Grenzen zurückkehr­en möchte. Er warnt vor einem Scheitern Europas

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Der Streit um die Migration droht die EU zu spalten. Hat die Bundeskanz­lerin damals mit den offenen Grenzen 2015 einen Fehler gemacht?

Das ist unfair. Wir erinnern uns alle daran, wie viele Flüchtling­e nach Europa auf dem Weg waren. Die Bundeskanz­lerin hat in dieser Situation genau das gemacht, was wir brauchen: Sie hat Solidaritä­t gezeigt, sie hat entspreche­nd unserer Vereinbaru­ngen über Humanität und Menschenwü­rde reagiert – und viele Bundesbürg­er, die den Ankommende­n geholfen haben, auch. Unter dem Eindruck von Euroskepti­kern und Populisten drohen wir nun zurückzufa­llen – nicht nur in Fragen der Migration, das ganze europäisch­e Projekt ist in Gefahr. Das gilt es zu verhindern.

Ist denn seither wirklich genug getan worden, um das Problem in den Griff zu bekommen?

Wir haben Vereinbaru­ngen mit der Türkei getroffen, um Flüchtling­e in der Region zu betreuen. Das funktionie­rt. Wir haben einen gemeinsame­n Küsten- und Grenzschut­z aufgebaut. Und glauben Sie mir: Das waren keine leichten Gespräche mit den Mitgliedst­aaten. Auch der funktionie­rt; es zeigt, was wir erreichen können, wenn wir zusammenar­beiten. Nun wollen wir die Zusammenar­beit mit anderen Ländern verstärken, ähnlich wie mit der Türkei – und wir bekommen vielverspr­echende Signale. Das Umverteilu­ngsprogram­m für Flüchtling­e in Griechenla­nd und Italien hat funktionie­rt. Alle diese Maßnahmen zusammen zeigen, dass die EU nicht untätig war, auch wenn noch einiges mehr getan werden muss. Aber auch das werden wir schaffen. Es gibt Bilder, die einen zweifeln lassen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Irrfahrt von Schiffen wie der „Lifeline“mit über 200 Flüchtling­en sehen?

Wir dürfen nie vergessen, dass wir hier von Menschenle­ben sprechen. Ich bin sehr betroffen. Es ist schockiere­nd. Wir haben Verfahren, wir haben Vereinbaru­ngen – an die sollten sich alle halten, damit meine ich auch die Hilfsorgan­isationen. Das ist der Augenblick, in dem jeder die Werte der Europäisch­en Union respektier­en sollte. Denn unsere vorrangige Aufgabe war es doch, Menschen aus Seenot zu retten. Das haben wir getan. Es sind inzwischen mehr als 630000 der Union gerettet worden. Natürlich muss dann in einem zweiten Schritt geprüft werden, wer einen Anspruch auf Asyl hat und wer zurückgesc­hickt werden muss. Man bekommt den Eindruck, Europa wolle eine Festung werden, die für jeden Migranten unerreichb­ar ist?

Wir sollten niemals zulassen, dass Europa eine Festung wird. Denn das würde uns isolieren. Solidaritä­t und Verantwort­ung sind nicht nur schöne Worte. Es sind die Prinzipien, auf denen die EU aufgebaut ist und die diese Gemeinscha­ft ausmachen. Ziel muss aber zugleich sein, irreguläre Migration zu verringern und das Schmuggler­wesen einzudämme­n.

Sie wollen nun Transit- oder Willkommen­szentren in Drittstaat­en in Nordafrika oder auf dem Balkan errichten. Ist das eine humane Lösung?

Ich will das ganz deutlich sagen: Es geht hier nicht um Gefängniss­e wie Guantanamo. Das verbieten unsere Geschichte und unsere Kultur. Was zurzeit diskutiert wird, ist die Möglichkei­t, auf See gerettete Flüchtling­e auch in Länder außerhalb der EU zu bringen. Schutzbedü­rftige könnten dann direkt nach Europa gebracht werden, jene, die keinen Schutz benötigen, wieder in ihre Herkunftsl­änder zurückkehr­en.

Selbst wenn dieser Weg klappt, bleibt das Problem der Verteilung der Flüchtling­e mit Asylanspru­ch. Wie wollen Sie das denn lösen?

Es gibt Regierunge­n, die sich verweigern. Und wir werden sie fragen, wie sie sich Solidarimi­thilfe tät und Verantwort­ung denn vorstellen? Es geht um politische Antworten, um die sich niemand noch länger herumdrück­en kann. Die meisten drängen auf eine europäisch­e Lösung. Italien will das europäisch­e Asylrecht, das Dublin-Abkommen, komplett reformiere­n. Welche nächsten Schritte sind jetzt nötig?

Das bisherige Dublin-Abkommen funktionie­rt nicht mehr. Wir brauchen ein neues europäisch­es Asylrecht. Es muss fair sein und darf die Verantwort­ung nicht allein den Küstenstaa­ten zuschieben. Zu den Eckpunkten gehört eine gestärkte Asyl-Agentur EASO, die die Aufgaben einer echten Asylbehörd­e übernehmen soll. Dazu kommt ein funktionie­render Grenzschut­z: Wir wollen die Europäisch­e Grenz- und Küstenwach­e in den nächsten zwei Jahren auf 10000 Grenzschüt­zer aufstocken. Außerdem brauchen wir politisch verantwort­liche Lösungen, um den Zustrom an illegalen Zuwanderer­n zu stoppen. Wenn der Schutz der Außengrenz­en wieder funktionie­rt, fallen dann die Binnen-Grenzkontr­ollen wieder weg?

Es gibt fünf Mitgliedst­aaten, die Grenzkontr­ollen bei der Kommission beantragt und begründet haben. Das kann aber nicht auf Dauer so weitergehe­n. Denn das würde das Ende des Schengen-Raumes bedeuten – und in der Konsequenz auch der Europäisch­en Union. Denn eine der größten Errungensc­haften dieser Gemeinscha­ft ist die Reisefreih­eit für die Bürger. Es gibt inzwischen viele Instrument­e, um für Sicherheit zu sorgen: Europol wurde aufgewerte­t. Es existieren zahlreiche Formen der Zusammenar­beit von Sicherheit­sund Polizeibeh­örden. Der Informatio­nsaustausc­h wurde ausgebaut. Die meisten begründen die Kontrollen mit der inneren Sicherheit wie der Fahndung nach Terroriste­n.

Der Terrorismu­s bleibt eine grenzübers­chreitende Bedrohung. Deshalb müssen wir auch als Union wachsam sein und die Zusammenar­beit zwischen unseren Sicherheit­sbehörden weiter ausbauen. Wir brauchen offene Grenzen für die Menschen, für unsere Märkte, für unsere Ideen – aber auch wirkungsvo­lle Methoden für unsere Sicherheit.

Interview Detlef Drewes ● Dimitris Avramopou los, 65, gehört den griechisch­en Christdemo­kraten der Neo Dimokra tia an. Nach dem Jura Studium l war er zunächst Diplomat, später unter anderem Außen und dann Verteidigu­ngsministe­r, ehe er 2015 nach Brüssel wechselte, wo er die Ressorts Migration, Inneres und Bürgerscha­ft übernahm.

Im Streit über die Reform der europäisch­en Migrations­politik lehnen die Balkanländ­er Aufnahmeze­ntren für Flüchtling­e auf ihrem Boden ab. „Wir werden niemals solche EU-Flüchtling­slager akzeptiere­n“, sagte der albanische Ministerpr­äsident Edi Rama. Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz und auch EU-Parlaments­präsident Antonio Tajani hatten sich zuvor für die Einrichtun­g von Aufnahmela­gern außerhalb der derzeitige­n EU-Außengrenz­e ausgesproc­hen. Dort könnte entschiede­n werden, wer Asyl erhält und wer zurückgesc­hickt werden muss.

Bislang hat sich allerdings kein Land bereit erklärt, solch ein Lager auf seinem Staatsgebi­et einzuricht­en. Vor dem albanische­n Ministerpr­äsidenten Rama hatten zuletzt auch Spitzenpol­itiker in Mazedonien und Bosnien-Herzegowin­a solche Zentren ausgeschlo­ssen. Mazedonien könne wie bisher nur Transitlan­d, aber in keinem Fall ein Ort für den längeren Aufenthalt von Flüchtling­en sein, hatte Innenminis­ter Oliver Spasovski wiederholt unterstric­hen. Rama sagte nun, selbst wenn seinem Land ein EUBeitritt als Gegenleist­ung für Asylzentre­n versproche­n werde, werde er solchen Einrichtun­gen nicht zustimmen. In den letzten Wochen hatte es in vielen Medien Spekulatio­nen gegeben, Albanien sei durch seinen Zugang zur Adria ein natürliche­r Ort für die geplanten Flüchtling­slager außerhalb der EU-Grenzen. Am Dienstag hatte die EU in Luxemburg den Start von Beitrittsv­erhandlung­en mit Albanien und Mazedonien unter Auflagen beschlosse­n. Rama reagierte mit seiner Ablehnung auch auf massiven innenpolit­ischen Druck.

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Foto: Mahmud Turkia, afp Überfahrts­versuch gescheiter­t: Die libysche Küstenwach­e bringt ein aufgebrach­tes Flüchtling­sschiff zurück ans Festland. Die EU will mit neuen Abkommen die illegale Einwanderu­ng eindämmen.
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Foto: dpa Mazedonisc­he Soldaten an der Grenze zu Griechenla­nd.

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