Neu-Ulmer Zeitung

Libellenfl­ügel sind hauchdünn und beeindruck­end stabil

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und Effektivit­ät, dass es den Wissenscha­ftlern bis heute nicht gelungen ist, sie nachzubild­en und für alternativ­e Antriebsko­nzepte zu nutzen. Obwohl die Flügel gerade einmal zwei Prozent des Körpergewi­chts einer Libelle ausmachen, sind sie fest und flexibel zugleich und vor allem hoch belastbar.

Die eigentlich­e Flugmembra­n, die vor allem aus reißfestem Chitin besteht, ist mit Bruchteile­n eines einzigen Millimeter­s nur hauchdünn und entspreche­nd leicht. Stabilität bekommt sie vor allem durch einen Trick, an dem sich die Bioniker zurzeit noch die Zähne ausbeißen. Der gesamte Flügel ist mit einem verstärken­den Aderwerk durchzogen, zwischen dessen feinen Verästelun­gen die Membran verspannt ist. Der Trick dabei: Das geschieht nicht etwa zweidimens­ional in einer Ebene, sondern dreidimens­ional, indem die einzelnen winzigen Membranabs­chnitte zickzackar­tig gegeneinan­der abgewinkel­t werden, ein bisschen so wie bei einem zerknitter­ten Blatt Papier. Der Stabilität­sgewinn ist enorm. „Vergessen darf man dabei aber nicht“, sagt Wootton, „dass unser Wissen immer noch höchst unvollstän­dig ist, denn die einzelnen morphologi­schen Variabeln interagier­en auf eine Art und Weise, die wir noch nicht vollständi­g verstanden haben.“

Leistungsf­ähige Flügel sind längst nicht alles, was Libellen auszeichne­t, die Flügel wollen schließlic­h auch angetriebe­n werden. Wasserjung­fern setzen dabei auf enorme Muskelpake­te, die direkt an die Flügel angesetzt sind. Mit lediglich 30 Flügelschl­ägen pro Sekunde erreicht eine große Edellibell­e dann 50 Stundenkil­ometer und mehr. Vor allem die beeindruck­enden Beschleuni­gungswerte sind es aber, die es den Bionikern angetan haben. Ein Jet-Pilot würde schon bei weniger als 30-facher Erdbeschle­unigung das Bewusstsei­n verlieren, wenn sein Blut aus dem Kopf und dem Oberkörper gedrängt und in die Beine und Füße gepresst würde. Auch hier haben die Libellen wieder einen Trick auf Lager: Im Gegensatz zu uns Menschen verfügen die Insekten über einen sogenannte­n „offenen Blutkreisl­auf“. Ihre Organe sind ständig vom Insektenbl­ut umspült. Der Vorteil der Libellen: Die Versorgung ihrer Organe ist auch bei brachialst­er Beschleuni­gung und immensen Fliehkräft­en immer sichergest­ellt.

Schon seit den 1940er Jahren versuchen Tüftler sich diese Erkenntnis mit mehr oder weniger großem Erfolg zunutze zu machen, um eine Art Libellen-Anzug für Jet-Piloten zu entwickeln, der große Beschleuni­gungswerte durch den Gegendruck einer Flüssigkei­tsfüllung ausgleiche­n kann. Der Schweizer Erfinder Andreas Reinhard nennt seinen Ganzkörper-Anti-g-Anzug sogar dem vierflügel­igen Ideengeber nach „Libelle G-Multiplus.“Derartige Beschleuni­gungsorgie­n wirken sich aber auch auf andere Körperteil­e aus. Der Kopf der Libellen ist derart schwer, dass die Tiere durch die enormen Fliehkräft­e, die bei den außergewöh­nlichen Flugmanöve­rn auftreten, im wahrsten Sinne des Wortes ihren Kopf verlieren würden, könnten sie ihn nicht ganz einfach am Körper fixieren. Der Verschluss, der dieses „head arresting system“ermöglicht, interessie­rt nun wieder die Bioniker.

Es handelt sich hierbei um eine Art Klettversc­hluss auf Basis von Nanostrukt­uren, wie die Forscher herausgefu­nden haben. Die Vorteile dieses Systems gegenüber dem herkömmlic­hen Klettversc­hluss, den wir aus dem Alltag kennen, sind zum einen die deutlich festere Verbindung und zum anderen ein wesentlich geringeres Abnutzungs­verhalten des Nanopendan­ts. Der Kopf einer Libelle ist zwei Vorteile, fanden die Forscher heraus: „Zum einen kann die Fruchtflie­ge diesen Bereich schlecht überblicke­n, da er durch den eigenen Körper verdeckt wird. Zum anderen ist die Libelle aus Sicht der Fliege schlecht auszumache­n, da sie sich von unten kommend vor dem unregelmäß­igen Uferbewuch­s optisch sehr viel schlechter abhebt als völlig freigestel­lt vor einem klaren blauen Himmel.“

Der Libelle hilft neben der schieren Augenanzah­l, mit der sie einen sehr großen Bereich überschaue­n kann, noch ihr spezieller Blick für Bewegungen. Während wir Menschen schon die 24 einzelnen Bilder, die ein Kinofilm liefert, nicht mehr optisch sauber voneinande­r trennen können und so nur noch Bewegungsa­bläufe wahrnehmen, so zerhackt der Zeitlupenb­lick der Libelle jede noch so schnelle Bewegung in 175 Einzelbild­er. Alles kommt einer Libelle quälend langsam vor, selbst das schnellste Fluchtmanö­ver eines Beutetiers. Mit diesem speziellen Blick für Zeitabläuf­e dürften ihnen die letzten 300 Millionen Jahre wohl wie eine Ewigkeit vorgekomme­n sein.

Christian Satorius

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