Das Leid geht nie zu Ende
Heute fällt das lange erwartete Urteil im NSU-Prozess. Die Angehörigen der Ermordeten bleiben dennoch ratlos und verzweifelt zurück. Denn vieles wurde nicht aufgeklärt
München Abdulkerim Simsek hat die fünf Jahre durchlitten. Hat verfolgt, wie das Gericht sich durch die Details der Anklage gegen Beate Zschäpe und ihre vier mutmaßlichen NSU-Helfer gearbeitet hat. Wie die Richter sich weit in die Verästelungen vergruben. Und wie sie die Fragen der Nebenkläger und ihrer Rechtsanwälte immer wieder verwarfen, abblockten, wie sie an den Behörden scheiterten, an einer Mauer des Schweigens.
Ihn lässt die Vorstellung nicht los, was sein Vater durchlitten haben muss in den Stunden nach den Schüssen auf seinen Kopf und seinen Oberkörper, bis ihn Passanten zufällig fanden. Er kann nicht glauben, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos durch puren Zufall auf den Blumenstand von Enver Simsek gestoßen sind, damals im September 2000. „437 Tage“, sagt er, habe das Gericht verhandelt. „437 Tage ist diese für uns wichtige Frage nicht beantwortet worden.“
Neben Simsek sitzt Gamze Kubasik. Auch sie hat ihren Vater verloren; auch ihr Vater starb, weil Böhnhardt und Mundlos seinen Tod beschlossen hatten. Der Schmerz, der Verlust, sagt Gamze Kubasik, werde sie bis zum Tod begleiten. „Der NSU hat meinen Vater ermordet. Aber die Ermittler haben seine Ehre kaputt gemacht. Sie haben ihn ein zweites Mal ermordet.“Auch sie hat sich durch den Prozess gequält. „Die fünf Jahre waren eine Enttäuschung“, sagt sie. „Ich hatte auf Antworten gehofft. Ich bin total enttäuscht.“Sie habe geglaubt, sie könne nach dem Prozess alles abschließen. Doch das, sagt sie, sei ein Irrtum gewesen.
Es ist nicht so, dass Abdulkerim Simsek und Gamze Kubasik schon gewusst hätten, zu welchem Urteil die Richter heute im NSU-Prozess kommen werden. Sie glauben auch nicht, dass Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und die drei anderen zu gut wegkommen könnten. Es geht ihnen nicht um das, was heute pas- siert. Es geht ihnen um das, was im Verfahren nicht geschehen ist.
Sebastian Scharmer, Anwalt von Gamze Kubasik, hat am Tag vor dem Prozessbeginn das Verfahren intoniert. Jetzt, am Tag vor dem Urteil, moderiert er das Ende an. Die Trio-These sei hinfällig. „Der NSU war ein Netzwerk, das aus weit mehr Menschen bestand als nur aus den fünf Angeklagten. Alle anderen aber laufen immer noch frei herum.“Dass das Gericht sich damit nicht habe beschäftigen dürfen, sei falsch. „Wir wissen, dass es im Kern um die fünf Angeklagten gegangen ist. Es ging aber auch um die Frage nach der Größe und der Gefährlichkeit des NSU.“Dass bei den verantwortlichen Behörden ein Einsehen feststellbar sei, dass sie dort Konsequenzen gezogen hätten, Scharmer verneint das. „Dort wurde vertuscht und gelogen, und das durch das gesamte Verfahren hindurch.“Deshalb könne das Gericht mit dem Urteil zwar ein Kapitel schließen. „Beendet ist der Fall NSU damit aber noch lange nicht. Dafür sind zu viele Fragen offen.“
Die Sorge ist groß bei den Angehörigen der Opfer wie bei ihren Anwälten, dass mit dem Ende des Verfahrens „auch das Ende der Aufklärung der Hintergründe kommt“, sagt Rechtsanwältin Seda Basay. Sie steht Abdulkerim Simsek zur Seite. Und sie drängt darauf, dass die Behörden endlich alle Akten freigeben. Noch unterliegen etliche Dokumente der Geheimhaltung.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Opfern im Februar 2012 versprochen, alles werde aufgeklärt. „Sie hat es nicht eingehalten“; attestiert Gamze Kubasik, die auf ein weiteres Treffen mit Merkel keinen Wert mehr legt. Für ihre Anwälte ist jetzt vor allem eines wichtig, und das bringt dann die Kanzlerin doch wieder ins Spiel: Die Bundesrepublik müsse „umgehend ein Vernichtungsmoratorium“für alle Behörden erlassen. Es dürfe nicht passieren, dass weitere Akten aus dem NSU-Komplex im Schredder verschwinden.