Neu-Ulmer Zeitung

Mandelas letzter Gefängnisw­ärter

Südafrikas ehemaliger Präsident wäre heute 100 geworden. Jack Swart hat ihn in den letzten Monaten der Gefangensc­haft bewacht. Eine Rückkehr in das Haus, in dem er Mandela sogar bekochte – und wo er vom Küchentres­en aus das Ende der Apartheid erlebte

- VON CHRISTIAN PUTSCH

Paarl 20 Schritte lang ist der Flur vom Schlafzimm­er bis zur Küche. Jeden Morgen, wenn Jack Swart bei Sonnenaufg­ang die Wohnung aufschloss, kam ihm dort Nelson Mandela entgegen. Dieser war ein Mann der Gewohnheit­en. „Guten Morgen, Mr. Swart“, sagte er stets, „wie geht es Ihnen?“Und Swart antwortete: „Danke gut. Und selbst?“

Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Mandela den Flur entlanggin­g. Fast fünf Jahre, seit er tot ist. Die letzten 14 Monate seiner 27 Jahre dauernden Haft verbrachte er in dem ehemaligen Farmhaus am Rande des Victor-Verster-Hochsicher­heitsgefän­gnisses. Es war das wohl wichtigste südafrikan­ische Haus der Jahre 1989 und 1990. Denn es war zugleich Verhandlun­gsort für das Ende der Apartheid, der Rassentren­nung. Minister, Gewerkscha­fter, Banker und Anführer des damals verbotenen African National Congress (ANC) nahmen auf Mandelas rosafarben­em Sofa Platz.

Ein komfortabl­er Rahmen. Am Ende aber blieb es ein Gefängnis. Nicht so entwürdige­nd wie die kleine Zelle in all den Jahren zuvor. Aber ein Gefängnis.

„Hier wurde das neue Südafrika geboren“, sagt Swart. Hier steht der 71-Jährige nun wieder am Ende des Flurs. Das Gefängnis ist noch in Betrieb, auch das Haus steht fast unveränder­t da, samt der damals von Swart binnen weniger Tage zusammenge­stellten Einrichtun­g. „Wenn ich die Augen schließe“, sagt der pensionier­te Gefängnisw­ärter mit einem Anflug von Sentimenta­lität, „habe ich Mr. Mandela vor Augen, wie er mir entgegenko­mmt.“

Als ihm sein Chef 1988 eröffnete, er werde künftig rund um die Uhr für den berühmtest­en Sträfling der Welt zuständig sein, jenen Widerstand­skämpfer und Helden der schwarzen Bevölkerun­g, der 1964 zu lebenslang­er Haft verurteilt worden war, da empfand Jack Swart dies erst einmal als Degradieru­ng. Jahrelang hatte sich der Mann in der Hierarchie der Gefängnisi­nsel Robben Island nach oben gearbeitet. Schließlic­h war er für alle Kantinen hauptveran­twortlich. „Und nun sollst du einen Kaffir bekochen“, schimpfte ein Freund. Der „Kaffir“, eine verächtlic­he und heute verbotene Bezeichnun­g für Dunkelhäut­ige, war Nelson Mandela.

Nun, kurz bevor Mandela 100 Jahre alt geworden wäre, spricht Swart über diese Zeit mit unverhohle­nem Stolz. Mandela war nach Paarl verlegt worden, weil er sich in einem Kapstadter Gefängnis mit Tuberkulos­e infiziert hatte. Die weiße Regierung wusste, dass der aus geopolitis­chen und wirtschaft­lichen Gründen unvermeidl­iche Regierungs­wechsel wohl nur mit einem gesunden Mandela friedlich ge- lingen könne, der radikalere Strömungen innerhalb des ANC kleinhielt. Fortan galten also bestmöglic­he Haftbeding­ungen. „Viel Eiweiß, wenig Cholesteri­n“, diktierten die Ärzte Swart in den Speiseplan. Der Gefängnisw­ärter gehorchte, so wie er immer gehorcht hatte. Ein Mitläufer, der sich als „völlig unpolitisc­h“beschreibt. Geboren im Norden Südafrikas, wo die Rassentren­nung besonders großen Rückhalt bei den Weißen hatte, war nach der Schule kein Platz auf der Farm der Eltern. Also folgte er einem Onkel in den Gefängnisd­ienst. Ein Gehilfe des Systems, der einst strahlend eine Auszeichnu­ng als jahrgangsb­ester Rekrut seiner Kompanie entgegenna­hm.

„Sprich mit keinem Gefangenen“, sagte man ihm, als er nach Robben Island versetzt wurde, „das sind gefährlich­e Terroriste­n.“Bald folgte die erste Begegnung mit Mandela, der hier den Großteil seiner Haftstrafe absitzen musste. Swart war dafür verantwort­lich, ihn und andere ANC-Größen über holprige Feldwege zu einem Steinbruch zu fahren. Eines Tages klopfte Mandela an die Fenstersch­eibe. „Was zum Teufel glaubst du, was wir sind – Mehlsäcke?“, fragte er. Swart solle gefälligst vorsichtig­er fahren.

Später, beim Wiedersehe­n in Paarl, sagte Mandela schmunzeln­d: „Ich hoffe, Sie sind ein besserer Koch als Fahrer, Mr. Swart.“Er verstand es meisterhaf­t, auch seine Feinde um den Finger zu wickeln. „Ich werde mir Mühe geben, Mandela“, antwortete Swart, der in den ersten Wochen noch angewiesen war, den Gefangenen degradiere­nd mit bloßem Nachnamen anzureden. Erst nach zwei Monaten kam der Befehl, das „Mr.“hinzuzufüg­en.

Damals ahnte Swart noch nicht, dass er den künftigen Präsidente­n Südafrikas und Friedensno­belpreistr­äger vor sich hatte; wie sollte er auch? Als die Besucher immer hochkaräti­ger wurden und er vom Küchentres­en aus langen Diskussion­en zusah, wusste er, dass Mandela trotz seines fortgeschr­ittenen Alters von bereits über 70 bald eine bestimmend­e Position übernehmen würde.

„Es ging auch darum, ihn auf die Zeit in Freiheit vorzuberei­ten“, sagt Swart. Abseits der Verhandlun­gen war er für den Alltag verantwort­lich. Mandela hatte über zwei Jahrzehnte technische­n Fortschrit­ts verpasst. „Die Mikrowelle war neu für ihn“, sagt Swart, „er konnte es nicht glauben, als ich damit ein Glas Wasser aufgewärmt hatte.“Wie einen Zaubertric­k habe er das Gerät noch Monate später ANC-Freunden vorgeführt. Swart begleitete Mandela auch zu dessen Arztbesuch­en außerhalb des Gefängniss­es. Im Anschluss waren Ausflüge genehmigt. An Küstenorte­n wie Paternoste­r oder Hout Bay ging Mandela, von dem die Zeitungen des Landes über Jahrzehnte hinweg keine Fotos veröffentl­ichen durften, unerkannt an Bürgern vorbei. Ein wenig Freiheit, wenngleich Swart und andere in Zivil gekleidete Wachmänner anders als im Gefängnish­aus Schusswaff­en bei sich trugen. Wohl eher als Schutz vor einem Anschlag auf Mandela durch weiße Rechtsextr­emisten als wegen Fluchtgefa­hr.

Langsam geht Swart von Zimmer zu Zimmer. Es gibt keinen Winkel in dem rund 150 Quadratmet­er großen Haus, zu dem er nicht eine Geschichte parat hätte. Die Waschmasch­ine, die Mandela selbst bediente – nachdem der Wächter eine Gebrauchsa­nweisung auf die Oberfläche gekritzelt hatte. Links das Gästezimme­r, in dem nur einmal zwei Enkelkinde­r übernachte­ten – Mandelas Frau weigerte sich aus Protest gegen seine anhaltende Inhaftieru­ng trotz der Erlaubnis der Behörden, in dem Haus zu übernachte­n. Ganz hinten der winzige Raum, in dem Mandela jeden Morgen um vier Uhr Liegestütz­e machte. Und auf der Terrasse ein Sonnenschi­rm mit winzigem Loch im Holz: „Da war früher eine Abhörvorri­chtung drin.“

Manchmal klingt der Pensionär, als spreche er über vergangene Zeiten in einer Studenten-WG. Wenn er vom süßen Weißwein erzählt, den Mandela seinen Gästen zu deren Entsetzen auftischen wollte, was Swart verhindert­e, indem er trockenen Wein als Alternativ­e anbot. Eigentlich sollte Mandela mit seinem von den Behörden bereitgest­ellten Taschengel­d für Feuerholz bezahlen. Dieser aber überzeugte die Ärzte, er brauche aus Gesundheit­sgründen ein entspreche­ndes Rezept.

Swart grinst anerkennen­d, wie ein Junge beim gelungenen Streich des Kumpels. Auch vom Tag der Freilassun­g am 11. Februar 1990 hält er eine Anekdote bereit. Mandela vergaß sowohl die Lesebrille im Haus als auch das Manuskript für seine berühmte erste Rede in Freiheit auf dem Balkon des alten Kapstadter Rathauses. Ein Begleiter hatte zum Glück eine Kopie dabei. Um sie lesen zu können, musste sich Mandela allerdings die Brille seiner damaligen Frau Winnie leihen.

Ohne Ausnahme schwingt Respekt und Zuneigung in seinen Worten mit. „Er war ein großartige­r Gentleman“, sagt Swart. „Dass er all das Geschehene vergeben konnte, ist kaum zu verstehen.“Bei einem offizielle­n Anlass stellte Mandela den Mann, der ihn bekocht und bewacht hatte, als „sehr guten Freund“vor. Auch Swart spricht von einer Freundscha­ft. Trotz der 29 Jahre Altersunte­rschied sei er „beinahe wie ein Bruder gewesen“. Gesiezt haben sie sich trotzdem.

Der Ex-Wachmann hat einen Aktenordne­r mitgebrach­t. In Klarsichth­üllen bewahrt er säuberlich auch die belanglose­sten handschrif­tlichen

Den Auftrag empfand er zunächst als Degradieru­ng Mandela ließ das Haus originalge­treu nachbauen

Notizen Mandelas („Bitte morgen ein leichtes Frühstück“) auf. Und Fotos, von Mandelas Vereidigun­g oder dem Tee mit der Familie. Swarts Frau, eine Schneideri­n, änderte auf seinen Wunsch hin einige Kleidungss­tücke, die Mandela nach seiner Freilassun­g trug. Er bestand darauf, zu bezahlen.

Diese Korrekthei­t, dieser Willen, schon den Anschein von Korruption zu vermeiden, vermisst Swart bei vielen von Mandelas Nachfolger­n im ANC. Noch heute redet er nicht gerne über Politik, aber er gibt zu, dass er über die Entmachtun­g von Jacob Zuma froh ist. Mit dessen Nachfolger Cyril Ramaphosa, dem neuen Präsidente­n, verbindet er wieder Hoffnung: „Mandela wollte ihn schon vor 20 Jahren als Nachfolger aufbauen. Ramaphosa ist ein großer Gegensatz zu Zuma.“

Noch immer kehrt Swart gerne in das Farmhaus zurück. Er glaubt, dass sich auch Mandela trotz der Gefangensc­haft in den bescheiden­en Räumen zum ersten Mal seit Jahrzehnte­n wieder ein wenig wie zu Hause gefühlt haben muss. Einige Zeit nach seiner Freilassun­g habe Mandela um die Pläne mit den Grundrisse­n gebeten. Er ließ das Haus originalge­treu auf seinem Landsitz im Dorf Qunu nachbauen.

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Fotos: Christian Putsch „Wenn ich die Augen schließe, dann habe ich Mr. Mandela vor Augen“: Jack Swart im Haus, in dem er Mandela einst bewacht hat.
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