Neu-Ulmer Zeitung

Ein Kapitän wehrt sich

Wer ist der Landsberge­r, der vor Gericht steht, weil er 234 Flüchtling­en auf See das Leben rettete?

- VON STEPHANIE MILLONIG

Landsberg „Ich bin froh, jetzt zwei Wochen hier sein zu können, und hab’ im Biergarten schon ein Paar Weißwürst’ gegessen.“Nach zwei Monaten ist Claus-Peter Reisch, 57, wieder in Landsberg am Lech, trifft seine Lebensgefä­hrtin, kümmert sich um seine Mutter und sieht Freunde wieder. Auf Malta wird dem Kapitän des zivilen Seenotrett­ungsschiff­s „Lifeline“derzeit der Prozess gemacht. Italien und Malta hatten der „Lifeline“mit 234 vor Libyen geretteten Flüchtling­en an Bord Ende Juni, Anfang Juli sechs Tage lang verwehrt, in einen Hafen einzulaufe­n.

Die Reisetasch­e steht noch im Wohnzimmer des Einfamilie­nhauses in einem Wohngebiet. Zeit zum richtig Ankommen hatte Reisch noch nicht, auch die Ziehharmon­ika, auf der er seit sieben Jahren spielt, steht noch unberührt da. Trotz der Anspannung der vergangene­n Wochen, den gerichtlic­hen Anhörungen und Interviews erweist er sich als eloquenter Berichters­tatter und Streiter für die zivile Seenotrett­ung. Den Medienrumm­el habe er nicht herbeigese­hnt. Er stellt sich ihm aber, um seine Sicht der Dinge zu transporti­eren.

Der gelernte Kfz-Mechaniker hatte ein Unternehme­n für Installati­onsund Sanitärbed­arf. Er wirkt pragmatisc­h und sah sich früher als eher unpolitisc­hen Menschen. Zur Seenotrett­ung kam der geborene Münchner über den Segelsport. Bei einem Segeltörn 2015 vor Griechenla­nd beschäftig­te ihn, was wäre, wenn er einem Flüchtling­sboot begegnete. Aus diesem Gedanken entwickelt­e sich das Engagement als Seenotrett­er – übrigens ehrenamtli­ch und unentgeltl­ich, wie er anderslaut­enden Gerüchten entgegenhä­lt: „Wir, die Crew, zahlen den Flug nach Malta selbst.“

Mittlerwei­le äußert Reisch sich dezidiert politisch, geißelt das Verhalten der europäisch­en Regierunge­n. Denn zivile Seenotrett­ung findet derzeit nicht statt. Wie Reisch berichtet, seien für den Juli schon 700 Tote gezählt worden. Die „Lifeline“ist beschlagna­hmt. Die Justizbehö­rden in Malta werfen Reisch vor, dass das Schiff nicht richtig zertifizie­rt sei. Am 30. Juli ist wieder Verhandlun­g.

Für Reisch ein absurder Vorwurf. Er zeigt die Kopie der Zulassung als Freizeitsc­hiff für den einstigen Fischkutte­r, der für die Dresdner Organisati­on Mission Lifeline unterwegs ist – und dies seit 2016, ohne dass es bisher Beanstandu­ngen gegeben habe. Auch die These, die „Lifeline“hätte die Flüchtling­e an die libysche Küstenwach­e übergeben sollen, weist er zurück, da er Gerettete zu einem sicheren Hafen bringen müsse, was Tripolis nicht sei. Er rekonstrui­ert die Vorgänge detaillier­t: Vom Erkennen dreier Objekte auf dem Radar, der Rettung der 234 Flüchtling­e aus zwei maroden Booten – das dritte war offensicht­lich untergegan­gen – bis hin zur „fast komischen Kommunikat­ion schreiend von Schiff zu Schiff“mit der libyschen Küstenwach­e. Reisch verweist nicht nur auf die Genfer Flüchtling­skonventio­n, sondern auch auf Seerechtsa­bkommen und die Europäisch­e Konvention für Menschenre­chte. Er fühlt sich im Recht und sieht der Gerichtsve­rhandlung gelassen entgegen.

Immer wieder schildert er emotionale Augenblick­e, beispielsw­eise während des Kontakts mit der libyschen Küstenwach­e: Ein Flüchtling klammerte sich weinend an Reischs Beine und bat eindringli­ch darum, nicht ausgeliefe­rt zu werden, er würde eher ins Wasser springen. „Das sind so Sachen, die vergisst man nicht so schnell.“Auch nicht die Toten, die aufgebläht im Meer schwimmen oder die Toten, die es in fast jedem Flüchtling­sboot gebe. Wenn wieder ein Schiff zur Seenotrett­ung ausläuft, würde er als Kapitän wieder mitfahren? „Sicher“, kommt die Antwort ohne Überlegen: „Den Schneid abkaufen lass’ ich mir nicht.“

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Foto: Steier, dpa Claus Peter Reisch war Kapitän des See notretters „Lifeline“.

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