Neu-Ulmer Zeitung

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (94)

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UWilli Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Guttenberg

nd man braucht sich nicht zu genieren, wenn man sich auch lächerlich gemacht hat, weil sie gar nicht richtig weggegange­n sind, sondern nur auf die Toilette. Man kann ruhig davor stehen, sich auslachen lassen, die haben es doch alle im Saal kapiert: der Neue in dem guten, blauen Anzug, der mit dem kleinen Seehund aus der Holzwarenf­abrik geht, der hat Feuer gefangen. Was schadet es schon? Einmal, einmal muß man tun dürfen, wozu das Herz einen treibt. Fort sind die andern, und er sieht sie, und sie hat eine Art, sich ins Haar zu fassen, wenn sie tanzt, ihren Kopf gewisserma­ßen zu stützen beim Tanzen. Und sie hat ein Kind, sie hat schon mit andern Männern geschlafen. Alles wird leichter sein bei ihr…

Und dann der Kopf, wenn sie ihn senkt über das Glas, und die Haare fallen alle über ihr Gesicht. O geh, flüstert es in ihm, o geh doch schon, daß ich mit dir sprechen kann…

Aber sie tanzt weiter und lacht weiter und schwatzt weiter und sie

sieht ihn gar nicht an, denn nun weiß sie, daß er sie sieht.

O geh doch!

Geliebte, einsame Nächte, ihr habt dies möglich gemacht, daß es so sein kann, daß es so kommen kann wie ein Glück, wie das eine, ganz große Glück. Und sie kann nicht nein sagen, und sie wird nicht nein sagen. Und sie mögen lachen über ihn. Nächsten Sonnabend wird er doch mit ihr tanzen, und er wird Arbeit bekommen, und er wird sie heiraten, er wird einen Jungen haben.

Ach, Liese von vor kurzem, wie anders ist diese Welt!

Das sind die kleinen, schlecht beleuchtet­en, schmalen Straßen der Stadt, mit den niedrigen Häusern. Und man fühlt tief den Himmel, fühlt ihn tief und ganz nahe. Und der Wind jagt um die Ecken, und die beiden Mädels da vorn kuscheln sich eng aneinander. Und er geht hinter ihnen her. Einen Schritt hinter ihnen her und hat noch immer nicht ein Wort gesagt. Die Lütjenstra­ße kommt, und sie schließt die Haustür auf und schwatzt noch einmal mit der Freundin, und er steht dabei, dicht dabei und fleht: O komm doch, komm.

Und die Haustür fällt zu, und das andere Mädchen geht an ihm vorbei und lacht und sagt: „Stiesel“und geht weiter. Und er steht da allein. Und es ist sehr dunkel, und er fürchtet sich vor seinem Zimmer.

Es ist viel später, als er entdeckt, daß ein Hof hinter dem Haus ist, und daß die Hoftür nicht verschloss­en ist, und daß man auf den Hof gehen kann, und daß hinter einem Fenster im Erdgeschoß noch Licht brannte.

Und wie es kam, nun gut, einmal hat man Mut. Er kratzte mit dem Fingernage­l an der Scheibe, leise, er klopfte lauter. Das Fenster ging auf. Und sie war am Fenster. Und fragte ganz sacht: „Ja?“

„O bitte du!“sagte Kufalt.

Und das Fenster ging wieder zu, und es wurde dunkel. Und er stand da, in dem fremden Hof, und plötzlich sah er nach oben, in seiner Einsamkeit sah er nach oben. Und er sah die Sterne, und sie gingen so seltsam nahe und bedeutend hervor. Und eine Hand war in der seinen. Und es flüsterte: „Komm.“

Es ist wieder Licht in dem Zimmer, aber es ist nicht ihr Bett, das er sieht. Es ist das Bett des Kindes, und das Kind schläft. Es hat sich zusammenge­rollt, die Knie hoch hinaufgezo­gen bis unters Kinn, wie es wohl früher in dem Mutterleib gehockt hat. Und die Wangen sind rosig und die Haare sind verwuselt über der Stirn …

Beide sehen sie herunter auf das Kind.

Und dann sehen sie einander an. ,O liebes, liebstes Gesicht du!‘ Und er nimmt seine beiden Hände und legt die Fingerspit­zen gegen ihre Wangen und führt ihren Kopf seinem Kopf entgegen. Und er meint, ihr Blut raunen zu hören. Und sie sehen sich nahe an, und ihre Lider wehen über die Augen, die braun sind. Und das Gesicht kommt näher und wird ganz groß.

Eben waren noch die Sterne da und die Nacht und das einsame Stehen auf dem Hof. Und nun kann solch ein Mädchenges­icht die ganze Welt sein. Mit Bergen und Tälern und den ertrunkene­n Seen der Augen … ,O du, liebes, liebstes Gesicht!‘

Und ihr Mund ist da. Er ist fest geschlosse­n. Er gibt nicht nach unter dem Druck seiner Lippen.

Plötzlich entgleitet ihm erst ihre Schulter, dann ihr Gesicht. Das Kind schläft noch immer. Sie stehen da: fremde Welt.

„Geh“, sagt sie bittend und führt ihn an der Hand über den Hof auf die Straße.

10

Es gab viele Dinge, über die man mit Emil Bruhn nicht sprechen konnte. Im Kittchen schien Gemeinsamk­eit geherrscht zu haben – nun, nein; viele Dinge, über die man schweigen mußte.

„Wo bist du denn gestern nacht abgebliebe­n?“

„Ich war so müde und es wurde so langweilig …“

„Wohl, weil die Hildegard Harder wegging?“

„Ach die!“

„Und läßt sich von einer, wie der Wronka Kowalska aus der Lederwaren­fabrik ,Stiesel‘ sagen?“

„Quatsch“, sagt Kufalt nur. „Alles Quatsch.“

Und als Bruhn weiter schwieg: „Mit den Pfaffen war es auch nichts. Sie können alle nichts wollen. Da ist das Wohlfahrts­amt, sagen sie. Als wenn ich das nicht wüßte!“

„Nicht einmal bei ihr reingekomm­en bist du!“

„Ich habe mir was überlegt deinetwege­n, Emil“, sagt Kufalt und tut eifrig. „Mit deiner Holzwarenf­abrik ist es auf die Dauer nichts. Und ein perfekter Tischler bist du doch…“

„Das bin ich“, muß Emil zugeben. „Wenn man elf Jahre im Kittchen getischler­t hat …“

„Wenn du nun deine Gesellenpr­üfung nachmachte­st und gingest zu einem richtigen Meister, nach Kiel oder Hamburg, wo niemand was von dir weiß?“

Bruhn ist wieder mürrisch: „Und das Geld, mein Junge, das Geld für die Prüfung und all die Zeit, wo ich nichts verdiene?! Nein, du hast dich gestern schön blamiert vor der ganzen Stadt. Mit dir geh’ ich so leicht nicht wieder aus!“Kann man erzählen? Ja, man könnte erzählen, man ist doch schließlic­h in ihrem Zimmer gewesen, nachts, nach zwölf… Aber das Kinderbett und das nahe liebe Gesicht…

„Wenn ich nun einmal für dich zum Direktor ginge und für dich redete?“fragt Kufalt. „Es ist doch ein Fonds da für die Entlassene­n. Und bei dir hat es doch Sinn, du kriegst doch vernünftig­e Arbeit dadurch.“

„Du drückst es nicht durch“, sagt Emil versöhnter. „Die ganze Beamtenkon­ferenz wird dagegen sein.“

„Also gehe ich hin“, sagt Kufalt. „Ich hab’ immer beim Alten ’ne Nummer gehabt. Du wirst schon sehen!“Die Nacht ist vergessen und der Freund, mit dem man paradieren wollte, und der sich Stiesel nennen ließ, ohne so ’nem Polenweib eine zu kleben, wie sich das gehörte… »95. Fortsetzun­g folgt

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