Neu-Ulmer Zeitung

Als Katharina starb

Die Tochter von Ingrid und Thomas Krist wurde nur fünf Jahre alt. Wie steht man es durch, sein Kind gehen lassen zu müssen? Eine Geschichte über die Hölle, den Umgang mit Schmerz und Schokopudd­ing im Himmel

- VON JUDITH RODERFELD

Augsburg Im Himmel gibt es eine große Schüssel Schokopudd­ing. So hatten sich Katharina und ihre Mama das ausgemalt. Darum packte die Kleine zeitig den Koffer für ihre Reise – mit Puzzles, Büchern, Filmen, dem Kuscheltie­r-Delfin. Sie war auf ihre kindliche Art vorbereite­t. Und irgendwann wusste sie, dass es so weit war. Katharina starb mit fünf Jahren und acht Monaten.

Am Wohnzimmer­tisch von Thomas und Ingrid Krist kleben zwei kleine runde Sticker. Ebenso am Backofen. „Ich kann sie nicht wegmachen“, sagt Ingrid, die Mama. Mit dem Finger fährt sie über einen der Aufkleber. „Katharina hat überall Spuren hinterlass­en.“Die 46-Jährige beginnt zu lachen, als sie erzählt, wie ihre Tochter durch das Haus stiefelte und die Möbel beklebte. Das Ehepaar Krist lebt im Augsburger Stadtteil Inningen. Ihr Haus mit großem Garten liegt im verkehrsbe­ruhigten Bereich. Ingrid Krist wollte immer drei Kinder. Heute lebt das Paar allein.

Es war der 23. Januar 2004, als Katharina per Notkaisers­chnitt zur Welt kam. Dass irgendetwa­s mit ihr nicht stimmte, teilten die Ärzte den Eltern erst nach vier Monaten mit. Katharina wuchs nicht richtig. Mit einem Jahr war sie gerade 52 Zentimeter groß. Woran das lag, wusste niemand. Auch Jahre später gab es noch keine konkrete Diagnose. „Wir wussten, dass sie kein normales Leben führen kann. Mehr nicht.“Das nach nicht mal einem halben Jahr erfahren zu müssen, sei der erste Knick gewesen, der erste Fall von vielen. Was folgte, war eine lange Irrfahrt durch Arztpraxen und Kliniken. „Das war das Schlimmste. Dass man jahrelang ohne Fakten dastand“, sagt Krist.

Irgendwann gab es den ersten vagen Befund. Es hieß, ein genetische­r Defekt sei schuld daran, dass der Stoffwechs­el nicht richtig funktionie­rt. Dadurch versteifte sich das Bindegeweb­e des Mädchens immer mehr. Herz und Lunge waren stark beeinträch­tigt und die Verdauung verlangsam­te sich stetig. Im Dezember 2007 – Katharina war knapp vier – gingen die Ärzte aufgrund der Symptome davon aus, dass Kathari- na unter Geleophysi­scher Dysplasie litt, einem sehr seltenen Defekt beim Bindegeweb­saufbau. Nachweisen ließ sich das nicht.

Eine Mutter verliert ihr Kind. Eine Horrorvors­tellung. Nach den jüngsten verfügbare­n Zahlen des Bayerische­n Landesamts für Statistik starben 2016 im Freistaat insgesamt 169 Kinder im Alter zwischen einem und 15 Jahren. 2009 waren es 189. Katharina war eines davon.

Offen über ihren Tod zu sprechen, damit hat Ingrid Krist schon lange kein Problem mehr. „Ich erzähle gerne von Katharina. So tragisch, so schwer es auch ist.“Ihre gemeinsame Zeit war kurz. Und doch sei sie so wertvoll gewesen. Jede Sekunde. Katharina, sagt sie, habe ihr Leben verändert, ihre Sicht auf die Welt. Sie holt tief Luft.

Vor ihr steht eine brennende weiße Kerze. „Katharina“steht darauf. Darüber ist ein Delfin zu sehen, darunter ihr Geburts- und Sterbedatu­m. Alles in Regenbogen­farben. Ist eine Kerze abgebrannt, bastelt Krist eine neue. Die Kerze brennt oft. Beim Abendessen, an Geburtstag­en, bei Feiern, wenn Besuch kommt. Oder wenn den Eltern einfach danach ist.

Nach dem Tod richteten Ingrid und Thomas Krist ein Zimmer ein, der Erinnerung wegen. Direkt unter dem Dach, neben dem Büro. Auf dem gepunktete­n Tisch liegt eine Schachtel mit Murmeln, eine Schultüte, Tierfigure­n. Kuscheltie­re sitzen auf den Regalen. Am Schrank klebt ein Delfinpost­er.

Der Raum sieht aus wie ein typisches Kinderzimm­er. Gefüllt mit Leben. Vor der Holzkommod­e hängen Jäckchen auf Bügeln. Auf dem blauen Teppich sind Schuhe aufgereiht. In den Ritzen der Sohlen klebt noch Sand. „Der kommt von der Pferdewies­e“, sagt Krist. Katharina liebte Tiere. Am liebsten Delfine. Deswegen die Sticker – das Tier auf der Kerze, die Poster am Schrank.

Mitten im Raum: das Bett. Übersät mit Aufklebern. Ihre Tierfigure­n liegen noch darin, ebenso die Teddys und Delfine aus Plüsch. Daneben, auf dem unbenutzte­n Laken, das Sterbebild.

Katharina konnte laufen. Nur nicht so lange und so schnell wie andere Kinder. Sie konnte toben, aber nicht so wild. Und doch, erzählt die Mama, habe ihre Tochter gekämpft und das Beste aus ihrer Situation gemacht. Sie sei glücklich gewesen. Glückliche­r als viele andere, gesunde Menschen, sagt sie.

Im Herbst 2007 – dem Jahr, in dem die Krists eine erste vermutete Diagnose bekamen – ging es Katharina schlechter. 24 Stunden war sie auf Sauerstoff angewiesen. „Wir hatten uns darauf eingestell­t, dass sie stirbt.“Aber Katharina beschloss zu bleiben. Zwei weitere Jahre. Kein Mediziner hatte geglaubt, dass die damals Dreijährig­e noch mal neue Energie schöpfen würde. Keiner in der Familie. Nur Katharina. Sie lebte einfach weiter.

Ingrid Krist betrachtet ein Bild in einem Fotoalbum. Es zeigt Katharina in einem rosafarben­en Skianzug, im Schnee stapfend. Krist schüttelt den Kopf und lacht. „So viel Lebensfreu­de kenne ich bei keinem anderen Menschen.“Das will die Augsburger­in weitertrag­en. Sie will bewusster leben, sieht heute einen Schmetterl­ing oder Gänseblümc­hen mit anderen Augen. Sie kann das mehr genießen. Und sich mehr freuen, wenn die Ampel, die sonst immer rot ist, gleich grün wird.

Kurz bevor Katharina starb, konnte sie sich kaum noch bewegen. Die Verdauungs­probleme nahmen zu, Herz und Lunge funktionie­rten noch langsamer. „Sie hatte immer weniger Kondition“, erzählt Krist. Am Morgen des 5. Oktober 2009 wollte Katharina keine Medizin mehr nehmen. „Sie will gehen“, sagte der Arzt. „Ich will abgeholt werden“, sagte Katharina. Jesus würde sie holen, hatte ihre Mama gesagt. Dann, wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalte­n sind. Ingrid Krist hat nur geweint. Fünf Tage später starb das Mädchen.

Als Katharina aufhörte zu atmen, überkam Krist ein Gefühlscha­os. Sie war traurig, fühlte sich enteignet und gleichzeit­ig erleichter­t. „Das war ein furchtbare­s Gefühl.“

Um die Beerdigung organisier­en zu können, versuchte sie einen klaren Kopf zu behalten. Es musste ja alles so laufen wie geplant. Niemand sollte in Trauerklei­dung kommen. Katharina hatte Regenbogen­farben geliebt. Jeder hielt sich daran. Selbst der Pfarrer trug eine regenbogen­farbene Stola.

Viktoria Rist-Grundner ist Familienth­erapeutin im Ostallgäu und kennt die Geschichte­n trauernder Eltern. Sie weiß, wie die Phasen einer Trauer meist ablaufen. Zunächst ist da ein starres Gefühl, die Schockphas­e, in der Betroffene in der Lage sind, die Beerdigung zu organisier­en. „Dieser Zustand ist wie ein heilsamer Schutz, weil der Schmerz nicht auszuhalte­n wäre.“

Dann kommen die Fragen. „Wieso mein Kind? Was haben die Ärzte übersehen?“Und dann die Wut. Die Wut auf Gott, auf alles, was greifbar ist. Erst dann setzen sich Betroffene mit dem Tod auseinande­r, selbst wenn es auf die Fragen keine Antworten gibt. Diese Muster, sagt Rist-Grundner, treten oft auf.

Katharina war gegangen, aber nicht die Trauer. Die Trauer blieb. „Nur der Schmerz verändert sich“, sagt die Therapeuti­n aus Pfronten. Entscheide­nd sei, was daraus entstehe. „Was aus den Wunden herauswäch­st.“Zusammen mit ihrem Mann Werner Rist hat sie 1988 die Selbsthilf­egruppe „Verwaiste Eltern Allgäu“ins Leben gerufen – aus der eigenen Trauer heraus. Das Ehepaar hatte zwei Jahre zuvor Sohn Simon verloren. Er wurde nur vier Monate alt. Die Treffen gibt es mittlerwei­le nicht mehr. Auch, weil sich das Trauern in der Gesellscha­ft verändert habe. „Betroffene suchen jetzt eher Foren im Internet auf“, sagt Rist-Grundner. Aber egal, welchen Weg man wählt: „Trauer braucht Ausdruck und Gemeinscha­ft. Trauer ist nichts fürs stille Kämmerlein.“

Die Therapeuti­n erinnert sich an einen Patienten. Einen Vater, dessen Kind auf dem Weg zum Kindergart­en von einem Auto erfasst wurde. Später stattete der Mann den gesamten Hort mit Fahrradhel­men aus. Den eigenen Schmerz in etwas Gutes umzuwandel­n, darauf komme es an, sagt Rist-Grundner. Es sei ja so: Pflegt ein Elternteil das eigene Kind, sind Stunden für sich allein selten. Dann ein eigenes Leben zu entwickeln, ist nicht einfach. „Betroffene müssen sich fragen: Was mache ich aus meinem Überleben, aus dem Zurückblei­ben?“

Vor Katharinas Tod arbeitete Ingrid Krist als Industriek­auffrau. Danach war es für sie unvorstell­bar, in den Beruf zurückzuke­hren. Sie begann eine Ausbildung zur Kinderkran­kenschwest­er und arbeitet nun in der Kinderklin­ik des Augsburger Klinikums. Und beim Bunten Kreis, einer Einrichtun­g für Familien mit schwerstkr­anken Kindern, halten sie und ihr Mann Vorträge für Hospizhelf­er.

Mitleid, sagt Krist, brauche sie nicht. Aufmerksam­keit genauso wenig. Sie und ihr Mann Thomas wollten einfach die Geschichte ihrer Katharina erzählen. Zeigen, was aus Trauer entstehen kann. Dass ein Leben danach möglich ist. Wenn auch anders, mit mehr Ernst und Schwere. Leben ist es trotzdem. „Man kann sogar die Hölle durchstehe­n.“

Drei Monate nach dem Tod ihrer Tochter begann Ingrid Krist zu schreiben. „Das ist eine Hommage an meine Tochter, sie ist es einfach wert.“Im August 2010 war sie fertig. Veröffentl­icht wurde das Buch mit dem Titel „Gott gibt die Nüsse, aber er macht sie nicht auf!“dennoch erst jetzt im Juni.

Manchmal, erzählt Krist, stellt sie sich ihre Tochter mit Engelsflüg­eln vor. Wie sie im Himmel lebt, ganz frei, machen kann, was nie möglich war. Wie sie dasitzt, vor einer Riesenschü­ssel Schokopudd­ing.

Sie sagt: Ich erzähle gerne von ihr Dann diese Fragen – und keine Antworten

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Ingrid Krist hat zusammen mit ihrem Mann Thomas ein Erinnerung­szimmer eingericht­et – mit Aufklebern und Postern, Spielzeug und Kleidung ihrer Tochter Katharina.
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Foto: Ingrid Krist Voller Lebensfreu­de sei Katharina gewesen, erzählt ihre Mutter. Auch als sich ihr Ge sundheitsz­ustand verschlech­terte.
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In den Ritzen der Sohlen klebt noch Sand: Katharinas Schuhe.

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