Neu-Ulmer Zeitung

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (96)

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FWilli Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Guttenberg

reese schüttelt den Kopf, er betrachtet wieder Kufalt, er sagt: „Es hat alles keinen Sinn, Jüngling, alles keinen Sinn. Durch den Stadtpark fließt die Trehne, bei den Lederwerke­n ist ein guter Hafen, überall ist das Wasser kühl und naß – bei Ihnen hat es noch einen Sinn.“

„Und bei Ihnen?“fragt Kufalt atemlos das Gespenst aus Alkohol und Trübsinn.

„Zu alt“, sagt Freese, „viel zu alt. Wenn man nichts mehr zu erwarten hat, lebt man immer weiter – Sie haben noch was zu erwarten, also Schluß!“Die beiden sind still.

„Kalt“, sagt der alte Mann und schaudert mit einem Blick auf den Ofen. „Lassen Sie nur, es hilft doch nichts mehr. Wie kommen Sie zu Dietrich?“

„Er ist bei mir gewesen auf der Wohnung.“

„Und was hat er Ihnen geboten?“„Alle mögliche Arbeit, ein Viertel der Erträge an ihn.“

„Hat er Sie angepumpt?“fragt Freese.

„Nein“, sagt Kufalt stolz. „Ich hab’ ihn angepumpt.“

„Wieviel?“

„Zwanzig Emm.«

„Kraft!« schreit der Mann laut. „Kraft!!!“

Die Tür zum Vorderzimm­er tut sich auf, und das Pferdegesi­cht steckt den Kopf herein. „Na?“fragt es.

„Der junge Mann fängt morgen früh bei uns an, Annoncen- und Abonnenten­werben. Der gewöhnlich­e Satz. Wenn er nicht sechs am Tage schafft, fliegt er. Vorläufig fliegt erst einmal der Dietrich.“„Aaaber…“, fängt der Kraft an. „Fliegt, der Dietrich, läßt sich anpumpen!“sagt Herr Freese mit Nachdruck. Und dann: „Raus!“

Und Herr Kraft geht wirklich raus.

„Also morgen früh um neun“, sagt Herr Freese. „Aber ich sage Ihnen gleich, es hat keinen Zweck. Sie schaffen nie Sechse und ich schmeiß’ Sie raus und dann kommt doch das Wasser…“

Er sitzt da, sicher sieht er es, er sieht es. „Das Wasser“, sagt er. „Grau, kalt, naß. Wasser…“, sagt er. „Naß“, sagt er und schüttelt sich.

Diesmal schenkt er sich einen Kognak ein.

Er schaudert auch beim Trinken. Dann sagt er klarer: „Und wie ist es mit den zwanzig Mark von Dietrich? Der hat noch Schulden hier. Zahlen Sie die gleich ab.“

„Aaaber …“, fängt Kufalt an. „Na also“, sagt der alte Mann. „Sie haben noch Angst, wovon Sie die nächsten Tage leben werden – und Sie wollen Abonnenten werben?!!! Guten Morgen.“

„Guten Morgen!“sagt Kufalt und ist schon beinahe bei der Tür. Dann hört er es noch einmal: „Das Wasser“, und sieht das graue, aufgeschwe­mmte Gesicht, das grauweiße Haar, diesen Nickelmann der Schnapsfla­sche…

„Das Wasser…“, sagt der.

„Wie gefällt dir der Junge?“fragte sie.

„Gut. Sehr gut“, sagte er hastig. „Er heißt Willi. Wilhelm“, sagte sie.

„So heiße ich auch“, sagte er.

„Ja, ich weiß“, sagte sie.

Die Nacht war sehr dunkel. Über dem blattlosen Geäst der Stadtwaldb­äume war der Himmel – ohne Sterne – mehr zu ahnen als zu sehen. Sie waren – erst getrennt nebeneinan­der durch die beleuchtet­en Straßen, dann eingehängt über die Chaussee, dann sich umfassend im verödeten Stadtwald –, so waren sie bis zu dieser Bank gekommen, um die junge Fichten standen. Der Wind war über ihnen, an den Seiten ferner, sie saßen dicht beieinande­r, warm.

Er sah ihr Gesicht wie einen hellen Schimmer, die Augenhöhle­n ganz dunkel – und es leuchtete aus dieser samtigen Dunkelheit.

„Kinder müssen einen Vater haben“, sagte sie.

„Ich bin auch zu lange allein gewesen“, sagt er und lehnte den Kopf gegen ihre Schulter. Es war weich.

Sie zog ihn näher, mit einer Hand gegen die Brust. „Und ich erst!“sagte sie. „Wie das mit dem Kind passierte und alle sahen mich an und plötzlich war ich ein Dreck und Vater schlug mich immer und Mutter heulte ewig bloß …“

Sie versank in Gedanken.

„Ich habe keinen Vater mehr“, sagte er.

„Ach, das wäre viel besser!“rief sie. „Dann könnte ich mir ein Zimmer mieten und für den Jungen arbeiten… Aber so…“

„Warum gehst du denn nicht weg?“fragte er. „Du bist doch mündig.“

„Aber das geht doch nicht“, widersprac­h sie eifrig. „Wo Vater hier Meister ist, und bis das passierte, war er Obermeiste­r von der Glaserinnu­ng. Wo mich hier alle kennen! Nein, nein, ich muß schon zu Haus bleiben, bis mich mal einer heiratet.“Eine Weile Stille. Die Hand, die den Kopf an der warmen weichen Brust hält, ist lockerer geworden im Zugriff. Aber dann kommt die andere dazu, beide heben sie den Kopf, nun berühren sich die Lippen und diesesmal bleiben die des Mädchens nicht geschlosse­n. Halb geöffnet ist ihr Mund, die Lippen sind weich, es ist, als schwellten sie unter dem Kuß, als blühten sie auf.

Der Mund von Hilde löst sich einen Augenblick, sie stößt einen Laut aus: Befriedigu­ng, Wasser nach langem Durst – und dann stürzt er gleichsam aus dem Nachthimme­l auf den seinen herab, saugt, verlangt, wird immer voller, glühender, zärtlicher …

Nein, kein Wort, keine Anrede, kein Kosename. Zwei Verdursten­de, die endlich, endlich trinken. Stilles, endloses Küssen – und dazwischen hinein hört Kufalt den Nachtwind im Walde, ein Ast schabt knarrend an einem anderen, das plötzliche Aufwirbeln von Herbstlaub, eine Autohupe, fern, fern …

Und während Kufalt atemlos trinkt, erfüllt eine grenzenlos­e Traurigkei­t sein Herz: ,Vorbei, während ich küsse, schon vorbei… Im Anfang Ende.‘

Und: ,Kinder müssen einen Vater haben… er heißt Willi… bis mich mal einer heiratet… vorbei, im Küssen schon vorbei…‘

Arme, düstere Erde, die mit der Erfüllung schon die Trauer bringt, Planet, kaum von Sonnenstra­hlen durchwärmt, schon von Eiseskälte­n versteiner­t … kalte Glut, armer Kufalt …

Und – ach, wie sie sich küssen, nun haben sie schon umeinander die Arme geschlunge­n, sie atmen hastiger, das Hirn beginnt zu tanzen, das Herz flattert, vor den Augen glimmt es wie aus Asche entflammte Glut – und während sie sich immer verzehrend­er, begieriger, einwühlend­er küssen, geht durch Kufalts Kopf böses Denken: ,Wenn du schlau bist, vielleicht bin ich noch schlauer… wenn du mich fangen willst, vielleicht fange ich dich …‘

Und seine eine Hand gleitet von der Schulter unter den Mantel, über die Bluse, an die Brust, umfaßt sie. Und sein Bein bedrängt sie.

Mit einem Ruck reißt sie sich los, sie reißt ihren Leib von seinem los, wie man ein Eisen vom Magnet losreißt. »97. Fortsetzun­g folgt

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