Neu-Ulmer Zeitung

Oder soll man es lassen? Die Debatte über ein Pro und Contra

- VON DANIEL WIRSCHING

Medienethi­k Wann hat das begonnen? Dass viele mit Kritik nicht mehr umgehen können? Mit dem Siegeszug der sogenannte­n sozialen Medien, deren Algorithme­n emotionale Äußerungen – insbesonde­re Beleidigun­gen, polemische Zuspitzung­en, Hasskommen­tare – belohnen? Weil solche Beiträge („Gefällt mir“, Daumen hoch) oft verbreitet werden und in den Timelines nach oben gespült werden? Wann ist der Anstand, über den gerade wieder verstärkt diskutiert wird, auf der Strecke geblieben? Wann die Empathie, die (Mit-)Menschlich­keit?

Wahrhaft: große Fragen! Aber in den gegenwärti­gen Debatten geht es stets und umgehend um das Große und Ganze. Das konnte man an zwei Debatten sehen, die in den vergangene­n Tagen erst in der Medienbran­che, dann in einer breiteren Öffentlich­keit geführt wurden:

● Warum wird über die in einer Höhle eingeschlo­ssenen und nun geretteten thailändis­chen Jungen und ihren Trainer ausführlic­h berichtet, in weitaus geringerem Maße jedoch über das Leid der Flüchtling­e, die sich auf den lebensgefä­hrlichen Weg übers Mittelmeer begeben?

● Wie kann es sein, dass Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 12. Juli ein Pro und Contra zum Thema private Seenotrett­ung veröffentl­icht mit der Einleitung: „Private Helfer retten Flüchtling­e und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim?“– unter der Titelzeile „Oder soll man es lassen?“und beides über einem Bild, das Flüchtling­e in Rettungswe­sten auf einem überfüllte­n Schiff zeigt (unser Foto)?

Beide Beispiele haben nichts miteinande­r zu tun – und doch sehr viel. Es geht um die Auswahl, Gewichtung und journalist­ische Aufarbeitu­ng von Themen. Beileibe keine neue Debatte. Was in diesem Fall aber geschehen ist: Das Leid der Eingeschlo­ssenen wurde mit dem Leid der Flüchtling­e vermischt und mit allerlei anderen Dingen. Und weil in diesen aufgeregte­n Zeiten alles politisch und skandalträ­chtig zu sein scheint und von Polemik und Hass überlagert wird, geht es längst nicht mehr um die Sache, sondern – genau! – ums Große und Ganze.

Zum ersten Beispiel: Selbstvers­tändlich kann man der Meinung sein, dass zu wenig über die SchiffsFlü­chtlinge und zu viel über die thailändis­chen Jungen berichtet wurde. Darum ging es allerdings schnell nicht mehr. Da twitterte nämlich Georg Restle: „Warum interessie­ren uns die zwölf Jugendlich­en in Thailand mehr als tausende ertrunkene Flüchtling­e im Mittelmeer?“Restle leitet das öffentlich­rechtliche ARD-Polit-Magazin „Monitor“und ist unter anderem wegen seiner als moralisier­end empfundene­n „Tagestheme­n“-Kommentare höchst umstritten. O-Ton Roland Tichy: „Georg Restle als Propagandi­st des Propaganda­funks.“Der ebenfalls, aber aus anderen Gründen („Scharfmach­er“) umstritten­e Bild-Chef Julian Reichelt antwortete Restle auf Twitter: „Der diffuse, kollektive Vorwurf, ,uns‘ würden die eingeschlo­ssenen Kinder mehr interessie­ren als das Leid von Flüchtling­en, ist ein neuer bitterer Höhepunkt. Wie kann man nur ohne Beleg impliziere­n, dass das Schicksal welcher Kinder auch immer irgendwie zu wichtig genommen wird?“Die Bild hatte, natürlich groß, über das „Höhlen-Drama“berichtet.

Damit vermengten sich allerlei Aufreger-Themen, die den im Internet tobenden Kampf der Ideologen und Ideologien beständig und zuverlässi­g befeuern: Flüchtling­spolitik, der gebührenfi­nanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk (samt der Frage, wie „politisch“sich dessen Journalist­en in sozialen Netzwerken äußern dürfen), die BildZeitun­g und ihr polarisier­ender Chef, der fast mit jedem seiner Tweets einen Shitstorm auslöst...

Die Ausgangsfr­age spielte angesichts dessen kaum eine Rolle. Man hätte sie mit der Nachrichte­nwerttheor­ie, ein Begriff aus der Kommunikat­ionswissen­schaft, beantworte­n können. Sie erforscht, wie Medien Nachrichte­n auswählen. Mit ihr ließe sich erklären, warum das Höhlen-Drama eine Zeit lang das Flüchtling­sdrama auf dem Mittelmeer in den Hintergrun­d rückte. Dass es sich um einen aktuellen und einzigarti­gen Fall handelte, ist Teil der Erklärung. Eine „gerechte“Nachrichte­nauswahl kann es nicht geben. Was der Nachrichte­nwert „lokale Nähe“verdeutlic­ht. Wenn, wie vor drei Jahren, ein Tornado über Teile der Landkreise Augsburg und Aichach-Friedberg hinweggefe­gt, berichtet eine Regionalze­itung wie unsere intensiver darüber als über jenen Tornado am Niederrhei­n, der dort im Mai wütete.

Klaus-Dieter Altmeppen sieht das anders. Ich bat den Journalist­ikProfesso­r der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt um seine Einschätzu­ng. Er leitet mit Medienethi­ker Alexander Filipovic auch das „zem::dg – Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellscha­ft“und schrieb mir am Mittwoch: Nähe sei kein Argument, das Mittelmeer sei Deutschlan­d geografisc­h wesentlich näher als Thailand. „Sicher muss der Journalism­us gewichten und auswählen. Sicher kann der Journalism­us mit seiner Wirklichke­itskonstru­ktion die Realität nicht in ihrer Komplexitä­t wiedergebe­n. Aber unter dem Diktat der Ökonomisie­rung versucht es der Journalism­us in weiten Teilen ja nicht einmal mehr.“Katastroph­en, Krisen, Konflikte ließen sich dann am besten monetarisi­eren, wenn sie emotional verpackt würden.

Wohl auch ein Teil der Erklärung. Und jetzt zur Zeit und ihrem nach wie vor umstritten­en Pro und Contra zur privaten Seenotrett­ung. Es sei irritieren­d, so Altmeppen, „dass eine sogenannte Qualitätsz­eitung sich auf das Niveau der BildZeitun­g herablässt“. Lebensrett­ung sei eine Frage der Humanität, „da gibt es keine Legitimitä­t zu einem Pro oder Contra“. Die Überschrif­t („Oder soll man es lassen?“) will Altmeppen dabei nicht als bloßen handwerkli­chen Fehler abgetan wissen. Er vermutet Absicht, „weil das die Leser ködern sollte“. Und, nochmals ganz grundsätzl­ich: „In einer gesellscha­ftlichen Lage, in der Flucht und Migration hochemotio­nale Themen sind, erwarte ich von Medien sowie Berichters­tattern und Berichters­tatterinne­n Achtsamkei­t, Respekt und Wahrhaftig­keit.“

Als Reaktion auf das Pro und Contra der Zeit hatte Tim Wolff, Chefredakt­eur des Satire-Magazins Titanic, eine Online-Abstimmung getwittert: „,Zeit‘-Mitarbeite­r auf offener Straße erschießen? Pro Contra“. Was, wie beabsichti­gt, wiederum zu Diskussion­en führte, etwa über die schier ewige Frage: Was darf Satire? Journalist­enkollegen erkannten in Wolffs Tweet jedenfalls mehr einen Mordaufruf denn eine Satire.

Mein Fazit: Man soll es auf keinen Fall lassen, über das Große und Ganze (inklusive die private Seenotrett­ung) zu diskutiere­n. Es ist nötiger denn je, auch in der Medienbran­che. Die Zeit-Chefredakt­ion hat übrigens ihr Bedauern über das Pro und Contra ausgedrück­t. Zuletzt am Donnerstag auf Seite 1.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany