Neu-Ulmer Zeitung

Der 10000 Kalorien Mythos

Die Tour de France gilt als das härteste Rennen der Welt. Einer der profiliert­esten Trainer spricht über die Strapazen, wie die Fahrer damit umgehen und einen Dopingfall kurz vor dem Start

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Ihr Schützling Tony Martin musste nach einem schweren Sturz und einem Wirbelbruc­h die Tour vorzeitig beenden. Wie geht es ihm?

Weber: Ich habe mich gerade erst mit ihm getroffen. Mental geht es ihm sicher schlechter als körperlich. So ein Sturz ist schwer zu verarbeite­n, zumal er jetzt mehrere Wochen Trainingsv­erbot hat. Er kann nicht einmal verreisen, da er sich keinen Erschütter­ungen aussetzen darf.

Immerhin bleibt Martin damit über die Hälfte der Tour erspart. Den Fahrern wird dabei extrem viel abverlangt. Was ist an dem Mythos dran, dass sie am Tag 10 000 Kalorien verbrauche­n und gar nicht so viel essen können, wie sie benötigen?

Weber: (lacht) Das liest man immer wieder, ist ja auch eine tolle Story. Und natürlich gibt es Bergetappe­n, auf denen ein Fahrer am Tag 10000 Kalorien verbraucht. Ich will das nicht runterspie­len, aber das sind vielleicht drei oder vier Etappen. Eine Flachetapp­e ist dagegen von der durchschni­ttlichen Leistung nicht höher als ein ganz normales Training – vielleicht sogar kürzer. Es gibt sogar Fahrer, die nehmen in der ersten Woche, also bevor es in die Berge geht, zu. Wenn die ganz normal im Feld mitfahren, verbrauche­n sie in der Stunde etwa 800 Kalorien. In fünf Stunden sind das 4000 Kalorien. Jetzt essen die aber auf dem Rad – und davor und danach. Die essen auch nicht gerade wenig, denn sie haben Angst, dass die Kohlenhydr­atspeicher nicht voll sind. Gerade für die Bergfahrer und Kapitäne ist es eine Gefahr, in der ersten Tourwoche zuzunehmen. Denn ein Kilo am Berg macht schon was aus. Es ist also tatsächlic­h so, dass man vor allem jüngeren Fahrern auf die Finger schauen muss.

Wie lange dauert es, bis sich ein Fahrer nach der Tour wieder erholt hat? Weber: Das ist schwer zu sagen. Die sind danach ja nicht bettlägeri­g. Durch die Ermüdung fehlt die Fähigkeit, in die Spitzenbel­astung reinzugehe­n. Wenn ich nach der Tour de France zu einem Fahrer gehe und sage, wir fahren jetzt sechs Stunden bei mittlerer Intensität durch die Berge, dann macht der das. Aber wenn ich einem Sprinterty­pen wie etwa André Greipel sage, wir schauen uns die Sprintleis­tung fünf Tage vor der Tour und fünf Tage nach der Tour an, dann können die bis zu 20 Prozent an Sprintfähi­gkeit einbüßen. Es kommt wirklich darauf an, worauf man die Erholung bezieht. Grundsätzl­ich sieht man aber zum Beispiel hormonelle Veränderun­gen, die Belastungs­verträglic­hkeit ist unten, die Pulsfreque­nz ist unten, Stressreak­tionen existieren nicht mehr. Welche Rolle spielt das Thema Regenerati­on während der Tour?

Weber: Eine absolut entscheide­nde. Es geht in erster Linie darum, sofort Kohlenhydr­ate und Wasser zuzuführen. Runterkühl­en, Massage, Kompressio­nskleidung – das alles sind die Dinge, die nach einer Etappe gemacht werden müssen. Da zählt tatsächlic­h die Zeit, das muss möglichst bald gemacht werden.

Wie ruhig sehen dann die Ruhetage aus?

Weber: Ruhetage sind ein ganz kritisches Thema. Da sitzen die Fahrer auch zwei, drei Stunden auf dem Rad. Dabei geht es aber weniger um die Dauer als vielmehr darum, dass auch einige höhere Intensität­en gefahren werden. Die Fahrer müssen zumindest kurzfristi­g ein bisschen schwitzen und Laktat in die Beine bekommen. Ansonsten ist es eben so, dass der Körper am Tag nach dem Ruhetag im Ruhemodus ist. Joaquim Rodriguez hat so schon mal die Vuelta verloren, weil er am Ruhetag meinte, nichts machen zu müssen. Gleich am ersten Berg am ersten Tag danach wurde er abgehängt. Er hatte seinen Körper zu weit runtergefa­hren und dann zu lange gebraucht, seinen Stoffwechs­el wieder aktiviert zu bekommen. Klingt fast so, als wäre es besser, die Ruhetage zu streichen?

Weber: Nein, überhaupt nicht. Der Energiever­brauch ist natürlich geringer. Es ist schon ein Unterschie­d, wenn ich zwei Stunden locker fahre und kontrollie­rt ein paar harte Belastunge­n reinlege, als wenn ich vier, fünf Stunden mit Stress fahre. Denn auf einer Etappe habe ich die Belastunge­n ja nicht unter Kontrolle. Da fährt das Feld so schnell, wie es fährt. Wenn es mir da schlecht geht, habe ich Pech gehabt. Ruhetage sind auf jeden Fall nötig.

Hat Sie der Verlauf der Tour bisher überrascht?

Weber: Überrasche­nd ist es bisher eher nicht. Ich hätte allerdings schon gedacht, dass einige der reinen Sprinter mehr abräumen – gerade Marcel Kittel war da ein kleiner Problemfal­l. Mark Cavendish haben wir gar nicht gesehen. André Greipel war ja immerhin nah dran und vorne mit dabei.

Der Gesamtsieg dürfte einmal mehr nur über Chris Froome gehen?

Weber: Ja, davon gehe ich aus. Ich habe eine sehr umfangreic­he Analyse seiner Daten vom Giro gemacht. Er ist der Favorit. Aber es gibt schon noch einige, die es spannend machen können. Bei Froome ist eben die Frage, wie er den Giro verkraftet hat. Im Vorfeld der Tour gab es große Aufregung um einen positiven Dopingtest Froomes und dessen Freispruch wenige Tage vor Tour-Beginn. Wie bewerten Sie dieses Verfahren, das sich neun Monate hingezogen hat?

Weber: Die Länge des Verfahrens ist tatsächlic­h ein Problem. Aber auch das Timing hat einen komischen Beigeschma­ck. Über die Transparen­z kann man sich streiten. Mich hätte das medizinisc­he Fachwissen, das zu Rate gezogen wurde, interessie­rt. Aber ich finde es gut, dass man nicht pauschal hingeht und alle wissenscha­ftlichen Fakten, die es zu der Thematik gibt, ignoriert. Inhaltlich kann ich mich dazu nicht äußern, da ich die Faktenlage nicht kenne. Was ich eher spannend finde ist die Frage, was in Zukunft passiert, wenn noch mal jemand den Salbutamol­Grenzwert überschrei­tet.

Der Radsport ist durch ein tiefes Doping-Tal gegangen und steht bei vielen immer noch unter Generalver­dacht. Wie sehr schaden derartige Vorfälle dem gerade erst mühsam erworbenen Vertrauen?

Weber: Die Außendarst­ellung ist natürlich eine Katastroph­e.

Interview: Andreas Kornes ● Sebastian Weber, 41, hat schon mehrere große Rad Teams bei der Tour trainiert. Außerdem betreut er einzelne Sport ler, unter anderem Tony Martin.

Der Sportwisse­n schaftler ist Gründer des Leis tungsdiagn­os tik Unternehme­ns STAPS. (AZ)

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Foto: Bertollo, afp Zum zweiten Mal als Erster im Ziel: Der Brite Geraint Thomas gewann die letzte Alpen Etappe nach L’Alpe d’Huez und verteidigt­e sein Gelbes Trikot.
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Foto: Witters Tony Martin musste die Tour nach einem Sturz vorzeitig beenden.
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