Lückenkemper sprintet zu Silber
In der Königsdisziplin holt sich der Berliner Publikumsliebling die erste deutsche Medaille und genießt jeden Augenblick. Nun gehört die deutsche Staffel zum Favoritenkreis
Es war das erste Highlight der Leichtathletik-EM in Berlin: Gina Lückenkemper holte gestern Abend Silber über 100 Meter. Schneller kam nur die Top-Favoritin Dina Asher-Smith aus Großbritannien ins Ziel. Nur einmal war Gina Lückenkemper bis zum gestrigen Abend unter elf Sekunden geblieben. Bei der WM in London im vergangenen Jahr hatte sie die magische Grenze zum ersten Mal unterboten. Nach 10,95 Sekunden stoppte die Uhr. In Berlin schaffte sie es gleich zweimal: 10,98 im Halbfinale und im Finale. Und während Lückenkemper auf die Ehrenrunde ging, sicherte sich David Storl Bronze im Kugelstoßen (siehe Artikel unten).
Die 35000 Zuschauer aber hatten vor allem Augen für Lückenkemper. „Ich habe jeden Meter der Ehrenrunde genossen“, sagte sie später Abend, als die Freudentränen schon getrocknet waren. „Das war so emotional. Ich habe mir im Vorfeld zwar versucht vorzustellen, wie es ist, eine Medaille zu gewinnen. Aber wenn man es erlebt, ist es einfach so sehr viel schöner. Die Atmosphäre hier ist einfach der Wahnsinn. Wenn das ganze Stadion deinen Namen ruft – einfach nur Gänsehaut.“
26 lange Jahre war keine deutsche Sprinterin mehr unter elf Sekunden geblieben. Ohnehin haben das vor Lückenkemper nur sechs Deutsche geschafft – alle wurden des Dopings überführt. Die 21-Jährige ist die Erste, die es frei von derartigen Ver- dächtigungen geschafft hat. Sie fiel bisher schlimmstenfalls mit eher skurrilen denn verbotenen Methoden auf. Der Neurowissenschaftler Lars Lienhard ließ sie beispielsweise an Batterien lecken, um neuronale Prozesse zu aktivieren. Derartiges kann man getrost unter die Kategorie „Wer dran glaubt …“einordnen. Sicher ist dagegen, dass Lückenkempers Entwicklung mit gerade einmal 21 Jahren noch längst nicht abgeschlossen ist.
Das allein aber reicht heute längst nicht mehr aus, über den Tellerrand der Leichtathletik hinaus bekannt zu werden. Dazu braucht es mehr als sportliche Höchstleistungen. Mancher sagt, die Fähigkeit, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, sei in den sozialen Netzwerken gar schon wichtiger als der Sport. Ideal aber, da sind sich alle einig, ist es, wenn außergewöhnliches Leistungsvermögen mit einem einneham menden Wesen gepaart ist. Lückenkemper ist eines dieser in der Leichtathletik eher rar gesäten Exemplare. Gestern Abend, als ihr Name vor dem Halbfinale aufgerufen wurde, brandete erstmals bei dieser EM lauter Jubel im noch spärlich besetzten Rund auf.
Bis dahin hatte der Studentin der Wirtschaftspsychologie eine Bestätigung dessen gefehlt, was ihr da im vergangenen Jahr gelungen war. In Berlin lieferte sie. 10,98 Sekunden im Halbfinale, als Zweitschnellste ins Finale. Dort wiederholte sie diese Zeit und holte Silber. Für Tatjana Pinto (11,26 Sekunden) und Lisa Marie Kwayie (11,36) war die Vorschlussrunde dagegen Endstation. Trotzdem: Die deutsche FrauenStaffel am Sonntag gehört spätestens seit gestern Abend zu den heißesten Medaillenkandidaten. Lückenkemper: „Da wollen wir zusammen eine Medaille holen.“
„Wenn das ganze Stadion deinen Namen ruft – einfach nur Gänsehaut.“Gina Lückenkemper
Bis 2016 waren die 50 Kilometer, die längste Disziplin der Leichtathletik, nur den Männern vorbehalten. Dann startete die amerikanische Geherin Erin Taylor-Talcott eine Petition und bei der WM 2017 durften auch Frauen erstmals den langen Kanten in Angriff nehmen. Gestern in Berlin holte sich Ines Henriques aus Portugal den ersten Europameistertitel der Geschichte. Etwas mehr als vier Stunden war sie unterwegs. Ein längerer Spaziergang, würde der Hobbysportler sagen. Ausprobieren, würde der Geher sagen – und herzhaft lachen. Denn richtig gehen ist schwierig. Der Bodenkontakt darf zu keiner Zeit erkennbar verloren gehen. Außerdem muss das ausschreitende, also das vordere Bein beim Aufsetzen auf den Boden gestreckt sein. Wer das beachtet, wird schnell merken, wie kompliziert diese Disziplin ist. Bleibt die Frage, was dem Neandertaler zügiges Gehen genützt haben könnte. Möglicherweise gibt ein Blick auf das große Ganze die Antwort. Während sich die Gruppe in Sicherheit brachte, hatte der Geher einen eher unangenehmen Job: Den Säbelzahntiger ablenken. Mit wogenden Hüften und zur Not als knochige Beute.