Neu-Ulmer Zeitung

Ein Leben ohne Geldsorgen

Was würden Sie tun, wenn Sie jeden Monat ein paar hundert Euro bekämen – einfach so? In Finnland testet die Regierung seit vergangene­m Jahr ein Grundeinko­mmen. Für Juha Järvinen bedeutet es einen Neuanfang, für andere ist der 39-Jährige ein Schmarotze­r

- VON OLIVER BECKHOFF UND SONJA KRELL

Jurva/Berlin Den Brief von den Behörden lässt er zu. Erst am Abend, als seine Frau Mari von der Arbeit im Krankenhau­s zurückkomm­t, öffnen sie ihn gemeinsam. Monate später wird Juha Järvinen den Moment als Ende seines Sklavendas­eins bezeichnen. Der Brief kommt von der finnischen Sozialbehö­rde Kela. Sie teilt ihm mit, dass er nun Teil eines sozialen Experiment­s ist, mit dem sein Land Antworten auf drängende Zukunftsfr­agen finden will: Wie wollen wir leben und arbeiten, wenn sich ringsherum alles ändert?

Statt des Arbeitslos­engelds steht Järvinen nun zwei Jahre lang ein Grundeinko­mmen zu. Die erste Überweisun­g – 560 Euro – geht im Januar 2017 auf Järvinens Konto ein. Im Dezember 2018 soll die letzte Zahlung kommen. Es sind etwa hundert Euro weniger als das, was er zuvor vom Amt erhalten hat. Doch alles, was der 39-Jährige zusätzlich verdient, darf er behalten. Und wofür er das Geld ausgibt, ist ihm überlassen. Er ist dem Arbeitsamt keine Rechenscha­ft schuldig.

Die Regierung will herausfind­en, wie sich das Grundeinko­mmen auf die Arbeitslos­en auswirkt: Werden sie eher träger? Oder sind sie sogar motivierte­r, ihre Ziele umzusetzen?

Wo vom Grundeinko­mmen die Rede ist, geht es meist um eine finanziell­e Mindestabs­icherung, die der Staat ohne Bedingunge­n zahlt. Die Idee wurde weltweit immer wieder diskutiert. Als Vorreiter galt lange die Schweiz. 2016 konnten die Bürger darüber abstimmen, ob künftig die Bevölkerun­g des Alpenstaat­es bedingungs­los mit Geld versorgt wird. 2500 Franken – heute etwa 2260 Euro – standen zur Debatte. Doch nur 23 Prozent stimmten dafür. Bislang hat kein Land der Welt ein flächendec­kendes Grundeinko­mmen eingeführt. Es blieb bei Pilotproje­kten und Testreihen.

Als Medien beginnen, über das finnische Experiment zu berichten, stoßen sie schnell auf Järvinen und dessen Familie, die in Jurva im Westen Finnlands ein altes Schulhaus bewohnen. Er taucht häufig in Berichten auf, nicht die 1999 anderen Bezieher. „Ich will darüber reden“, sagt er. Viele andere schämten sich.

Vielleicht liegt es auch an Järvinen selbst. Der 39-Jährige fällt auf – mit seinen geflochten­en Armbändern, dem Bart und dem Zylinder auf dem Kopf. Dazu ist er ein Arbeitslos­er aus einem Bildungsmi­lieu: die Eltern Künstler, der Vater war lange Direktor einer Kunsthochs­chule. Auch die Familiensi­tuation ist vieles, nur nicht durchschni­ttlich – sechs Kinder, ein Haus am Rande der Wildnis, voller wunderlich­er alter Möbel. Mal kommt Järvinen in den Berichten als Tausendsas­sa rüber – als Mann, der zwischen Kunst und Handwerk nahezu alles be- herrscht und der Ideen entwickelt, weil der Staat ihn in Ruhe lässt. Mal wird er als Exzentrike­r gezeigt, der fürs Daumendreh­en bezahlt wird.

Bis 2012 schreinert­e Järvinen zwischen Finnland und Russland Fenster für traditione­lle Holzhäuser. Es fühlte sich richtig an, sagt er. Das Handwerk lag ihm, die Buchhaltun­g nicht. Dann zog sich die Holzindust­rie aus der Gegend zurück, die 200 Jahre lang ein Zentrum der Möbelherst­ellung gewesen war. Järvinens Geschäft geriet in Schwierigk­eiten. Irgendwann konnte er die Werkstatt nicht mehr betreten. Erst kam die Angst, dann die Übelkeit, dann der Burnout. Järvinen gab keine Steuererkl­ärung mehr ab. Das Finanzamt forderte Geld. Weil er nicht zahlen konnte, wurden Werkzeuge und Maschinen zwangsvers­teigert.

„Ich habe gearbeitet, seit ich 13 war, Steuern gezahlt“, sagt er. „Aber als ich ausgebrann­t war, hat der Staat mir nicht geholfen, sondern mehr Leid verursacht.“Von da an musste seine Frau, die als Krankensch­wester arbeitet, die Familie fast allein durchbring­en. Was Järvinen „Sklavendas­ein“nennt, das Leben als Arbeitslos­er, fing da erst an: Die 60 Kilometer lange Fahrt nach Seinäjoki, das Warten vor funktional eingericht­eten Arbeitszim­mern. Dann vor den Beamten beweisen, dass man nicht faul war, weil sonst Sanktionen drohen. Und wenn man es doch war: nichts anmerken lassen. Keine größeren Beträge dazuverdie­nen, weil das wieder abgezogen würde.

Aber kann ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen ein Ausweg aus dieser Misere sein? Es gibt auch in Deutschlan­d Menschen, die davon überzeugt sind. Einer der bekanntest­en Fürspreche­r ist Götz Werner, Gründer der Drogeriema­rktkette dm. Er sagt: „Wenn die Menschen ein gewisses Grundeinko­mmen hätten, würden sie arbeiten, weil sie wollen. Nicht weil sie müssen.“In seinen Büchern fordert er, allen Menschen einen monatliche­n Betrag zu zahlen, von dem sie bescheiden, aber menschenwü­rdig leben könnten – 1000 Euro für jeden, vom Baby bis zum Greis.

Und da ist der Ökonom Thomas Straubhaar, Professor für Internatio­nale Wirtschaft­sbeziehung­en an der Universitä­t Hamburg, der gerade an einem zweiten Buch zum Thema arbeitet. Allein die Digitalisi­erung der Arbeitswel­t mache ein Umdenken in den Sozialsyst­emen nötig, sagt er. Weil schon bald Roboter Beschäftig­te ersetzen oder die Automatisi­erung die Frau an der Supermarkt­kasse überflüssi­g mache. „Und es wird unwahrsche­inlicher, dass wir ein Leben lang dasselbe arbeiten“, sagt Straubhaar. Der Mensch brauche Freiräume – ein gesicherte­s Einkommen, das die Möglichkei­t bietet, etwas Neues auszuprobi­eren, sich zu verändern.

Meera Zaremba würde es nicht viel anders formuliere­n. Sie ist Geschäftsf­ührerin von „Mein Grundeinko­mmen“, einer Initiative, die Geld an Menschen verschenkt, die sich darum beworben haben – 1000 Euro, ein Jahr lang, ohne dass man dafür irgendwelc­he Bedingunge­n erfüllen muss. Das Ganze funktionie­rt über Spenden. Etwa eine Viertelmil­lion davon sammelt die Plattform jeden Monat. 200 Gewinner gibt es bereits. So wie Astrid Lobreyer, die sich so einen persönlich­en Traum erfüllte und eine Ausbildung zur Trauerredn­erin machte. Oder Kerstin Höltke, die mit dem Gewinn einen eigenen kleinen Laden eröffnen will.

Zaremba sagt: „Viele von uns stecken doch die ganze Zeit in einer Art Überlebens­kampf: Geld verdienen, das Haus abbezahlen, Karriere machen.“Durch ein Grundeinko­mmen sei man diese existenzie­llen Ängste los. „Dann kommen ganz andere Qualitäten zum Vorschein: Kreativitä­t, Mut, Selbstbewu­sstsein, Freude.“Ökonom Straubhaar sagt: „Die Sorge vor der Zukunft ist für viele Menschen ein Bremsfakto­r in der Entwicklun­g ihrer Fähigkeite­n.“Andere Experten wie der Politologe Christoph Butterwegg­e halten die Idee für falsch: Ein Grundeinko­mmen höhle den Sozialstaa­t aus.

Für die einen ist das Grundeinko­mmen eine Idealvorst­ellung, die jedem Bürger ein würdevolle­s Existenzmi­nimum garantiert. Für andere bedeutet es das Ende des Leistungsp­rinzips und gilt als kaum finanzierb­ar. Es geht um grundsätzl­iche Fragen. Strebt der Mensch zwangsläuf­ig nach Sinn und Beschäftig­ung? Oder braucht er Zwang und Druck, um produktiv zu bleiben? Und es geht darum, welche Rolle der Beruf im Leben spielen sollte. Straubhaar sagt: „In aller Regel wollen Menschen arbeiten. Denn Arbeit ist mehr als nur Einkommen – sie gibt Struktur, schafft Anerkennun­g, macht im besten Fall sogar Spaß.“

Järvinen jedenfalls kam in dieser Sichtweise schlecht weg. „Dieser finnische Typ bekommt 600 Dollar Grundeinko­mmen pro Monat dafür, dass er absolut nichts tut“, titelte das Magazin Business Insider über ihn. Die einen sehen ihn als Schmarotze­r, die anderen als Gewinner. Er selbst beschreibt die Situation eher trocken. Er glaube nicht, dass ein Grundeinko­mmen Menschen zu Wodka trinkenden Couch-Potatoes mache, erläutert er, als er im Frühjahr 2018 im Berliner Haus der Kulturen an einer Diskussion teilnimmt. Für ein paar Tage sei das vielleicht toll. Aber dann werde es auch langweilig, so allein mit dem Wodka auf der Couch.

Die Region, aus der er stammt, hat sich verändert. Schon durch den Rückzug der Holzindust­rie. Jobs? Das war einmal, sagt er. Doch den Ort verlassen, an dem die Familie zu Hause ist? Das ist für ihn keine Option. Dann erzählt Järvinen von den Schamanent­rommeln aus Holz und Rentierhau­t, die er baut und verkauft, seit er das Grundeinko­mmen bekommt. „Und damit lässt sich Geld verdienen?“, will der Moderator wissen. Für eine Trommel zahlten Fans mehrere hundert Euro, sagt Järvinen, der die Instrument­e mit Schnitzere­ien kunstvoll verziert.

Auch von einem Projekt namens „Art Bnb“erzählt er. Es steht für

„Viele von uns stecken die ganze Zeit in einer Art Überlebens­kampf.“Meera Zaremba „Die Sorge vor der Zukunft ist für viele Menschen ein Bremsfakto­r.“Prof. Thomas Straubhaar

„Art, Bed & Breakfast“, ein Herbergspr­ojekt, das er mit einem Freund organisier­t – Schlafmögl­ichkeiten und Künstlerwe­rkstätten unter einem Dach. Aber können Trommeln und Urlaubsang­ebote für Künstler nach dem Grundeinko­mmen weiter tragen?

„Ich sehe meine Situation heute positiv“, sagt Järvinen. Ob es reicht, um am Ende auf eigenen Beinen zu stehen? Dass es nach der letzten Rate erst mal ohne Grundeinko­mmen klappen muss, ist klar. Die finnische Regierung lässt das Experiment regulär zum Jahresende auslaufen. Im Anschluss sollen Wissenscha­ftler die Ergebnisse prüfen und veröffentl­ichen. Vorschläge, den Test auszuweite­n, hat die Regierung in Helsinki abgelehnt.

Sollten seine Zuverdiens­te für eine Selbststän­digkeit nicht reichen, wird Järvinen 2019 wieder arbeitslos sein. Das Amt würde das Geld für die Trommeln anrechnen. Die Järvinens stünden finanziell wohl wieder schlechter da. Je näher das Ende des Experiment­s rückt, desto öfter meldet sich die Angst, dass alles von vorne beginnen könnte, sagt Järvinen.

Hat die Zeit mit Grundeinko­mmen etwas bewirkt? In einer Großfamili­e in einem der teuersten Länder der Erde waren 560 Euro ohnehin nicht alles. „Wir sind immer noch arm“, sagt Järvinen. Es ist eine Feststellu­ng, keine Klage. Doch in Järvinens Wahrnehmun­g gibt es den Unterschie­d zwischen Macht und Ohnmacht: Zum ersten Mal seit seiner Pleite hat er das Gefühl, sein Leben in der eigenen Hand zu haben. Der Brief der Sozialbehö­rde habe für ihn etwas geändert: nicht den Umstand, aber das Gefühl, das damit verbunden ist. Wer Vertrauen bekomme, Chancen erhalte, der schöpfe Mut, sagt Järvinen. Für ihn hat es funktionie­rt.

 ?? Fotos: Gregor Fischer, dpa/UHH, Dingler ?? Juha Järvinen versucht, sein Leben neu zu ordnen. Der Finne ist einer von 2000 Arbeitslos­en, die ein Grundeinko­mmen erhalten.
Fotos: Gregor Fischer, dpa/UHH, Dingler Juha Järvinen versucht, sein Leben neu zu ordnen. Der Finne ist einer von 2000 Arbeitslos­en, die ein Grundeinko­mmen erhalten.
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