Neu-Ulmer Zeitung

Der Ex Chef, der nicht weichen will

Cem Özdemir ist nicht mehr Vorsitzend­er der Partei, sondern politisch eigentlich in die dritte Reihe gerückt – und bleibt trotzdem präsent wie eh und je. Was ist sein Ziel?

- Teresa Dapp, dpa

Berlin Vom dritten Stock ist Cem Özdemir ins Souterrain umgezogen. Als Chef der Grünen hat der 52-Jährige noch in der Grünen-Zentrale von oben auf Bäume geschaut. Der Blick im Büro des Vorsitzend­en des Ausschusse­s für Verkehr und Digitalisi­erung geht auf einen spärlichen Hof des Paul-Löbe-Hauses, das zum Bundestag gehört. Es gibt verschiede­ne Erzählunge­n dazu, warum Özdemir nun diesen Job hat.

Ein Vorsitz mit mehr Prestige, etwa des Außen- oder des Europaauss­chusses, sei für die kleinste Fraktion unerreichb­ar gewesen. Verkehr und Digitalisi­erung passten als Themen doch perfekt. Eine andere Fassung: Özdemir ist Verkehrsau­sschuss-Vorsitzend­er, weil ihn die beiden Fraktionsc­hefs der Grünen, Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, aus dem Rampenlich­t nehmen wollten. Weil Özdemir vor allem Göring-Eckardt, mit der er im Bundestags­wahlkampf das Spitzenduo gebildet hat, gefährlich werden könnte.

So oder so: Auf dem Papier ist Özdemir von der ersten in die dritte Reihe gerückt. Und in Wirklichke­it? Hält er sich hartnäckig in der Liste der wichtigste­n Politiker im Politbarom­eter der Forschungs­gruppe Wahlen – zwischenze­itlich sogar als beliebtest­er Politiker Deutschlan­ds, ein Platz, den sonst eher Außenminis­ter einnehmen. Wer auf dieser Liste landet, entscheide­n nicht die Umfrage-Macher, sondern die Bürger. Auch sonst: Özdemir auf allen Kanälen. Wenn Mesut Özil mit seinem Rücktritt aus der Nationalma­nnschaft eine Integratio­ns- und Rassismusd­ebatte lostritt: Wer böte sich als Gesprächsp­artner besser an als der Gastarbeit­er-Sohn, der sich durchgekäm­pft hat und auf Schwäbisch den VfB Stuttgart anfeuert? Wenn Erdogan auf Staatsbesu­ch nach Deutschlan­d kommen soll, wird einer seiner schärfsten Kritiker befragt, der immer noch Polizeisch­utz braucht, weil türkische Nationalis­ten ihn bedrohen.

Seine Anti-AfD-Rede im Bundestag machte Furore. Selbst die New York Times hat schon jemanden in seinem Büro vorbeigesc­hickt. „Solange er medial sichtbar bleibt, kann er auch unabhängig von formalen Führungsäm­tern von der Bevölkerun­g als einer der wichtigste­n Politiker wahrgenomm­en werden“, sagt Matthias Jung von der Forschungs­gruppe Wahlen. Özdemir komme zugute, dass er relativ wenig und auch von den Anhängern anderer Parteien recht positive Bewertunge­n erhalte.

Dabei galt Özdemir zunächst als der große Verlierer: Die JamaikaVer­handlungen von Union, FDP und Grünen platzen und mit ihnen der Traum vom Ministeram­t – viele hatten ihn schon als Außenminis­ter gesehen, er selbst sich vielleicht auch. Das Amt des Parteivors­itzen- den gab er nach mehr als neun Jahren freiwillig ab. Für den Fraktionsv­orsitz reichte die interne Unterstütz­ung nicht.

Tatsächlic­h kann Özdemir auch Menschen vor den Kopf stoßen, vor allem linke Grüne. Nur ein Beispiel: Dass er Daimler-Boss Dieter Zetsche zum Parteitag einlud, kam bei vielen gar nicht gut an. Nun äußert sich der gelernte Erzieher ganz zupolarisi­ere frieden mit seiner Situation. „Ich muss nicht zu jedem Thema einen Halbsatz raushauen. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruk­tur leistet gute Arbeit ins Parlament hinein“, sagt er. „Im Dialog mit Wirtschaft­sbossen oder EU-Kommissare­n hilft, dass mein Name nicht ganz unbekannt ist.“

Dass er immer wieder über die Parteigren­zen hinaus punktet, erklärt er auch mit seiner Herkunft als Deutsch-Türke auf der Schwäbisch­en Alb: „Ich habe immer mitbekomme­n: Es gibt da draußen noch andere Lebenswelt­en als meine. Du musst dich mit Neugierde darauf einlassen. Welches Recht der Welt hätte ich, mich darüber zu erheben oder diese lächerlich zu machen?“Aus dem Sommerurla­ub in Italien schickt er auf Instagram betont entspannte Grüße an „those who hate me“, also die, die ihn hassen: „Mein Energiedep­ot füllt sich hier gerade prächtig.“

Katrin Göring-Eckardt dürfte all das genau beobachten. Obwohl die Grünen mit ihr und Özdemir als Spitzenkan­didaten ihre Wahlziele

Er hält sich in der Liste der wichtigste­n Politiker Droht ein Machtkampf mit Göring Eckardt?

verfehlten und mit 8,9 Prozent kleinste von sechs Fraktionen im Bundestag wurden, hielt die 52-Jährige sich an der Fraktionss­pitze. Gerade hat sie via Spiegel Online angekündig­t, sie wolle auch 2019 wieder für den Fraktionsv­orsitz kandidiere­n. Die grüne Musik spielt jedoch seit einiger Zeit weniger im Bundestag und mehr in der Parteizent­rale, bei Habeck und Annalena Baerbock, Özdemirs Nachfolger­n.

Einen Machtkampf Özdemirs mit Göring-Eckardt um den Fraktionsv­orsitz halten viele Grüne für denkbar. Das beträfe auch Anton Hofreiter vom linken Parteiflüg­el. Zwei Männer dürfen sich die Fraktionss­pitze nicht teilen, da sind die Grünen streng. Özdemir bräuchte möglichst eine junge, links-grüne Frau an seiner politische­n Seite. Theoretisc­h wäre zwar denkbar, dass zwei „Realos“vom pragmatisc­hen Parteiflüg­el ganz vorn stehen, also auch Özdemir mit Göring-Eckardt. Aber dass die Grünen ihre Flügel-Parität für einen „Hardcore-Realo“aus der baden-württember­gischen Schule um Winfried Kretschman­n beiseitele­gen, ist wohl ausgeschlo­ssen. Apropos Kretschman­n: Die Nachfolge des ersten und einzigen grünen Ministerpr­äsidenten ist weiter ungeklärt. Özdemir hat zwar klargestel­lt, sein Platz sei in Berlin – sein Name wird dennoch immer wieder genannt.

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Foto: S. Gollnow, dpa Winfried Kretschman­n mit seinem Nachfolger als Ministerpr­äsident von Baden Würt temberg? Die Gerüchte, dass Cem Özdemir dazu bereitstün­de, halten sich seit Mona ten nicht nur in Stuttgart hartnäckig.

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