Neu-Ulmer Zeitung

Die Lira fällt, die Türken leiden

Wie sich die steigende Inflation und die wachsenden Wirtschaft­sprobleme des Landes auf den Alltag der Einwohner auswirken

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Ein Netzkabel für einen Computer? Der Elektrohän­dler hebt bedauernd die Hände. „Die habe ich nicht mehr nachbestel­lt, denn die kommen aus dem Ausland“, sagt er. „Ich habe sie bisher für 20 Lira verkauft, doch dafür bekomme ich sie jetzt selbst nicht mehr.“Und nun? Der Händler zögert kurz, dann zieht er das Netzkabel aus seiner Registrier­kasse und reicht es über den Tresen. Die Kasse, so impliziert er mit seiner Geste, werde er wohl nicht mehr lange brauchen. Mit stummem Entsetzen sehen die Türken in diesen Tagen zu, wie ihr Geld, ihr Einkommen und ihr Erspartes vor ihren Augen wegschmilz­t.

Die Szene, die sich vor wenigen Tagen in einem kleinen Elektrolad­en in Istanbul zutrug, erinnert an den Beginn der letzten großen Umwälzung in der Türkei. Ein Blumenhänd­ler warf im April 2001 dem damaligen Ministerpr­äsidenten Bülent Ecevit seine Registrier­kasse vor die Füße, weil er ihn für den Kollaps der Wirtschaft und seinen Ruin verantwort­lich machte. Die Geste war das Startsigna­l für Massenprot­este, die eineinhalb Jahre später zur Revolution an der Wahlurne führten, mit der die AKP von Recep Tayyip Erdogan die alte Garde der Türkischen Republik ablöste.

Diesmal trifft es die Türken mindestens ebenso schlimm. Die Lira hat seit Jahresbegi­nn fast ein Drittel ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Dahinter steckt auch ein Streit mit den USA. Die Türkei hat den US-Pastor Andrew Brunson inhaftiert. Beide Länder hatten zuletzt Sanktionen verhängt, die türkische Lira verlor infolgedes­sen noch einmal deutlich an Wert.

In den Familien und unter Freunden sind die Sorgen um Geld und Auskommen das wichtigste Thema. Wie könnte es auch anders sein: Der Lira-Absturz und eine Inflations­rate von fast 16 Prozent machen den Alltag plötzlich sehr viel teurer. Der staatliche Mindestloh­n von 1600 Lira netto im Monat, mit dem viele Türken auskommen müssen, war schon Anfang des Jahres mit einem Gegenwert von 352 Euro nicht gerade üppig. Heute sind es nur noch 260 Euro.

In den vergangene­n Wochen erlebten die Türken eine wahre Welle von Preisanheb­ungen: Brot, Strom, Gas – alles wurde teurer. „Bitte heiratet nicht mehr oder ladet mich zumindest nicht zur Hochzeit ein“, appelliert­e ein junger Mann per Twitter an seinen Freundeskr­eis. Denn der Preis für das traditione­lle Hochzeitsg­eschenk – eine zwei Gramm schwere Goldmünze – ist für viele unerschwin­glich geworden: Der Preis für die Münze kletterte innerhalb von drei Monaten um mehr als 30 Prozent. Um der Braut das Gold ans Kleid heften zu können, muss ein Normalbürg­er inzwischen fast ein Viertel seines Monatslohn­es hinblätter­n.

All das ist möglicherw­eise erst der Anfang, meint der regierungs­kritische Wirtschaft­sexperte Mustafa Sönmez. Der Kursverfal­l der Lira habe allein die Unternehme­nsverschul­dung seit Februar um mehr als 340 Milliarden Lira anschwelle­n lassen, schrieb er auf Twitter. Sönmez und andere Experten halten inzwischen ein Hilfspaket des Internatio­nalen Währungsfo­nds für möglich. Auch in der Krise von 2001 griff er ein und verpasste dem Land ein Konjunktur­programm – das für viele Normalbürg­er ebenso schmerzhaf­t war wie die Krise selbst.

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Foto: O. Kose, afp Die türkischen Wechselstu­ben schrauben ihre Kurse immer höher.

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