Neu-Ulmer Zeitung

Atomarer WAAhnsinn

Als in der Oberpfalz der Widerstand gegen die Kernkraft in Deutschlan­d eskalierte

- VON MICHAEL BÖHM

Wackersdor­f Er gilt als die bayerische Urgewalt in Person. Wer sonst als er hätte sich also um diese andere, viel globalere, ja existenzie­lle Urgewalt kümmern sollen? „Macht Euch die Erde untertan“, sprach also Franz Josef Strauß und kurbelte als Atomminist­er den Bau von Kernkraftw­erken in Deutschlan­d an. Wie passend, dass der erste Reaktor der Bundesrepu­blik 1957 in seinem Heimatland entstand: das Atom-Ei im oberbayeri­schen Garching. Und wie passend, dass Strauß 30 Jahre später in Bayern Ministerpr­äsident war, als die Kritik an der Kernkraft quasi explodiert­e. In Wackersdor­f in der Oberpfalz.

Hunderttau­sende Menschen gingen dort Mitte der 80er Jahre auf die Straße, um gegen den Bau einer nuklearen Wiederaufb­ereitungsa­nlage (WAA) zu demonstrie­ren. Was als friedliche­r Protest begann, eskalierte schnell und endete in einem Fiasko. Immer wieder kam es am beinahe fünf Kilometer langen Zaun rund um das Baugelände zu Ausschreit­ungen. Erst legten sich vor allem gewalttäti­ge Autonome mit der Polizei an, bis diese zurückschl­ug und Tränengas in die Menschenme­nge spritzte. Als einer der Demonstran­ten schließlic­h an einem Asthmaanfa­ll starb, wuchs die Solidaritä­t auch unter den „bürgerlich­en“Protestier­enden – und die Polizei schlug noch härter zurück. Bei der „Pfingstsch­lacht von Wackersdor­f“im Jahr 1986 – drei Wochen nach der Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l – wurden mehr als 400 Menschen verletzt, mehr als 100 Polizisten quittierte­n nach dieser Eskalation ihren Dienst. Und der Bayerische Rundfunk musste sich Zensurvorw­ürfe anhören, nachdem er sich aus dem Fernsehpro­gramm der ARD ausgeklink­t hatte, um einen atomkritis­chen Beitrag der Satiresend­ung „Scheibenwi­scher“nicht ausstrahle­n zu müssen. Der traurige Höhepunkt der Proteste in Wackersdor­f war dann der 10. Oktober 1987. Die bayerische Polizei bekam am Bauzaun des WAA-Geländes Unterstütz­ung von einer Spezialein­heit aus Berlin. Diese ging mit äußerster Brutalität vor, jagte davonlaufe­nde Demonstran­ten und verprügelt­e sie mit Knüppeln.

Das Ende der Diskussion­en um die Wiederaufb­ereitungsa­nlage war wiederum an Franz Josef Strauß geknüpft. Genau genommen an seinen Tod. Er starb am 3. Oktober 1988 – und der Ausstieg aus den Plänen begann. Die Anlage wurde daraufhin im französisc­hen La Hague gebaut und läuft dort heute noch.

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Foto: dpa Demonstran­ten steckten bei den gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen in Wackersdor­f auch Polizeiaut­os in Brand.
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