Neu-Ulmer Zeitung

Hilft das Freiburger Urteil dem Opfer?

Wie kann ein Kind wie der missbrauch­te Junge aus Staufen so viel Unrecht verarbeite­n? Die Chefärztin des Josefinums Schwaben gibt Einblicke in die Traumather­apie

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Die Mutter des missbrauch­ten Jungen und ihr Lebensgefä­hrte sind zu langen Haftstrafe­n verurteilt worden. Der Mann kommt außerdem in Sicherungs­verwahrung. Hat das Urteil Auswirkung­en auf die Verarbeitu­ng eines Traumas?

Prof. Michele Noterdaeme: Ich denke schon. Das Urteil macht die Taten nicht ungeschehe­n, aber es ist ein Signal für das Kind, dass das, was ihm widerfahre­n ist, nicht rechtens ist und dass Menschen, die solche Sachen machen, auch bestraft werden. Es ist ein Baustein in der Verarbeitu­ng von schwerem Missbrauch.

Hat ein Kind, das derart schwer missbrauch­t wurde wie im Staufener Fall überhaupt eine Chance auf ein normales Leben?

Noterdaeme: Vergessen werden kann das Erlebte nicht. Man kann nicht davon ausgehen, dass man eine so schwere Traumatisi­erung aus der Lebensgesc­hichte des Kindes streichen kann, ohne dass etwas übrig bleibt. Ob solche Kinder später die Chance haben, ein ausgefüllt­es Leben zu führen, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Das hat damit zu tun, wie das Kind jetzt aufgefange­n wird, ob eine angemessen­e Traumather­apie stattfinde­t und es hängt auch mit der Persönlich­keit und dem Temperamen­t des Kindes zusammen. Wir kennen aus der Forschung durchaus Kinder, die schwere Misshandlu­ngen erleben und das Ganze relativ gut überstehen, ohne dass sie körperlich­e oder psychische Beschwerde­n entwickeln. Andere wiederum entwickeln schwere Verhaltens­störungen.

Welche Faktoren sind besonders wichtig, damit Opfer das Erlebte verarbeite­n können?

Noterdaeme: Was durch den Missbrauch verloren geht, ist zum einen das Vertrauen in engste Bezugspers­onen und zum anderen das Selbstvert­rauen. Deshalb versucht man in der Therapie, wieder Vertrauen aufzubauen – die Pflegefami­lie spielt also im Alltag eine große Rolle. Der andere Teil ist, wieder Selbstvert­rauen und Selbstwirk­samkeit zu entwickeln. Manche Kinder fühlen auf irgendeine Art Schuld an dem Erlebten und fühlen sich ohnmächtig. Das sind lange Prozesse.

Ist es ratsam, Kinder, denen so etwas widerfahre­n ist, auch aus ihrem schulische­n Alltag herauszune­hmen, um ih- nen so einen Neuanfang zu ermögliche­n?

Noterdaeme: Man geht auf jeden Fall erst einmal weg vom schädigend­en Umfeld, in dem Fall war das die Familie. Der wichtigste Schritt ist deshalb zunächst die Unterbring­ung in der Pflegefami­lie. Ob man das weitere Umfeld belässt, hängt davon ab, wie das Kind dieses Umfeld erlebt hat. Hat das Kind Freunde in der Klasse, dann wird man versuchen, dieses Umfeld zu erhalten. War das Kind isoliert und aufgrund seiner Misshandlu­ng in einer Außenseite­rrolle, dann wird man durch einen Schulwechs­el versuchen, diese negativen Einflüsse zu minimieren.

Die verurteilt­e Mutter hat nach Angaben der Opferanwäl­tin bisher keine Reue gezeigt, der Sohn spricht laut seiner Anwältin auch nicht über sie. Kann es trotzdem sein, dass er irgendwann wieder den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter sucht?

Noterdaeme: Das mag sein, ja. Im Vorfeld kann man nicht sagen, wie sich das entwickelt. Aus der Erfahrung mit jungen Patienten, die wir hier betreuen, kann nach einer Phase der Kontaktabl­ehnung durchaus wieder eine Phase kommen, in der das Bedürfnis nach Kontakt und Aussprache da ist und die Jugendlich­en die Konfrontat­ion mit den Eltern suchen. Es gibt aber auch Kinder, die überhaupt keinen Kontakt mehr wünschen. Die leibliche Mutter wird voraussich­tlich aus dem Gefängnis entlassen, wenn der Sohn 22 Jahre alt ist. Welche Rolle spielt dieses Wissen bei der Verarbeitu­ng des Traumas?

Noterdaeme: Das ist für die Betroffene­n oft schwierig. Bei Patienten, die wir im Josefinum betreuen, sehen wir auch, dass zu dem Zeitpunkt der Freilassun­g ein Trauma wieder reaktivier­t werden kann. In der Weiterentw­icklungsge­schichte des Kindes wird man einen Umgang damit finden müssen – auch wenn dieser Umstand jetzt noch ganz weit weg ist. Man kann hoffen, dass zu der Zeit, in der die Freilassun­g der Mutter ansteht, wieder unterstütz­ende Therapiesi­tzungen für den jungen Mann stattfinde­n.

Im Freiburger Fall ist oft von Behördenve­rsagen die Rede. Warum gestaltet sich die Kommunikat­ion hier offenbar so schwierig?

Noterdaeme: Es ist nie ganz einfach, verschiede­ne Systeme miteinande­r zu vernetzen. Ich würde sagen, dass es in der Regel ganz gut funktionie­rt, dass es aber auch wieder Ausnahmen gibt, wo die Kooperatio­n zwischen den Systemen versagt. In der Regel lebt ein Grundschul­kind in mehreren Systemen – in der Familie, der Schule und unter Gleichaltr­igen. Es ist oft so, dass die Eltern schon nicht genau wissen, was in der Schule passiert und umgekehrt. Außerdem zeigen sich manche Proble- me nicht unmittelba­r, man braucht schon ein gewisses Feingefühl, um zu bemerken, dass in der Entwicklun­g eines Kindes plötzlich etwas schiefläuf­t. Da muss man die richtigen Stellen aktivieren, um dem Problem auf die Spur zu kommen. Das ist zugegebene­rmaßen komplizier­t, weil so viele verschiede­ne Institutio­nen Anlaufstel­le sein können, aber eben nicht müssen. Wie gehen Sie mit der Herausford­erung um, dass Verbrechen mittlerwei­le oft im Darknet stattfinde­n oder zumindest beginnen?

Noterdaeme: Neue Medien, Videos und eben das Darknet sind Felder, mit denen wir konfrontie­rt werden und von deren Gefahrenpo­tenzial wir häufig zu wenig wissen. Ich denke, dass wir in diesem Bereich noch viel Prävention­sarbeit in den Bereichen Gewalt- und Sexualpäda­gogik anbieten müssen. Dass es existiert, können wir nicht ändern. Aber die Erziehung und den Umgang damit müssen wir vertiefen, da stehen wir noch ganz am Anfang. Wir müssen genau wissen, welche Gefahren hier auch für Kinder ausgehen.

Interview: Ida König Prof. Michele Noterdae me ist Chefärztin der Kli nik für Kinder und Jugend psychiatri­e am Josefinum Schwaben.

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Foto: Patrick Seeger, dpa Die Mutter des Zehnjährig­en (links) wurde zu zwölfeinha­lb Jahren Gefängnis, ihr Freund (rechts) zu zwölf Jahren Haft mit an schließend­er Sicherheit­sverwahrun­g verurteilt.
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