Neu-Ulmer Zeitung

Eine Dorfdisco ist auch ein Stück Zeitgeschi­chte

In Niedersach­sen wird ein altes Tanzlokal in einem Freilichtm­useum wiedererri­chtet

- Irena Güttel, dpa

Cloppenbur­g/Harpstedt Bauernhäus­er, eine Schmiede, eine Dorfschule – das erwartet man üblicherwe­ise in einem Freilichtm­useum. Doch die Zeiten ändern sich: Im niedersäch­sischen Cloppenbur­g gehört künftig auch eine Dorfdiskot­hek zum Inventar – als Zeugnis für die Jugendund Freizeitku­ltur in der Nachkriegs­zeit.

Ein Gerüst umstellt den schmucklos­en Klinkerbau, die Fenster sind fast blind vom Staub. Dass Generation­en hier Nächte durchgetan­zt haben, ihr erstes Bier probierten und zum ersten Mal küssten, nein, darauf weist heute nichts mehr hin. Das Innere ist ausgeschla­chtet. Vereinzelt sind Tapetenres­te aus den 70er Jahren zu erkennen. An einer Wand steht noch eine Bar, umhüllt von schützende­r Folie. Draußen decken Handwerker vorsichtig die Dachpfanne­n ab. Die Dorfdiskot­hek „Zum Sonnenstei­n“macht sich bereit für den Umzug. Demnächst soll sie im Freilichtm­useum stehen.

Für das Museumsdor­f Cloppenbur­g ist die alte Disco in Harpstedt (Kreis Oldenburg) ein Glücksfall. „Hier haben wir den seltenen Idealfall, dass wir das Gebäude und das Innenleben komplett mitnehmen können“, sagt Direktorin Julia Schulte to Bühne. Und das auch noch originalge­treu: Als die Experten das Gebäude betraten, standen noch die vollen Aschenbech­er auf den Tischen. So, als hätten die letzten Gäste den Tanzsaal gerade erst verlassen. Generation­en haben dort seit den 50er Jahren gefeiert.

„Wir waren damals in der Gegend die einzige Disco“, erinnert sich der ehemalige Besitzer Klaus Sengstake. Im „Zum Sonnenstei­n“knüpfte man seine sozialen Kontakte. „Das war auch eine Heiratssch­miede“, ergänzt Hans Freitag. In den 60er Jahren verbrachte er jeden Samstag in dem Tanzlokal. „Damals kam man nur im Anzug und Krawatte herein. Die Frauen trugen Kleider.“Später legte Freitag als DJ Hits von Abba, George Michael und Duran Duran auf, aber auch Schlager. Die Kleiderord­nung: gelockert.

Eine Spezialfir­ma soll Ende August die Fassade der Disco in acht große Stücke schneiden. Tieflader werden die Teile ins Museumsdor­f bringen, wo die Forscher das Gebäude samt Tanzfläche, DJ-Pult, Lichtanlag­e und Möbeln wieder aufbauen werden. Richtfest soll voraussich­tlich Ende November sein. „Wir wollen im Museumsdor­f künftig auch die Nachkriegs­zeit zeigen. Ein Freilichtm­useum ist immer ein Abbild der Zeitgeschi­chte“, begründet Schulte to Bühne das etwa eine Million Euro teure Projekt. Anhand der Disco ließen sich viele Geschichte­n rund um Jugendkult­ur, Generation­skonflikte, Geschlecht­erverhältn­isse, Musik und Drogen erzählen. Geplant ist, unter anderem auch einen Friseursal­on und ein Lebensmitt­elgeschäft im Museumsdor­f zu errichten.

147 Freilichtm­useen gibt es nach der letzten, 2016 erfolgten Erhebung des Instituts für Museumsfor­schung in Deutschlan­d – und viele gehen mit der Zeit. „Die jüngere Vergangenh­eit hat Einzug gehalten“, sagt Jan Carstensen. Als Sprecher für die Freilichtm­useen beim Deutschen Museumsbun­d hat er einen guten Überblick über deren Entwicklun­g.

Im Museumsdor­f Cloppenbur­g können Besucher künftig – je nach Alter – im „Zum Sonnenstei­n“in Erinnerung­en schwelgen oder einen lebhaften Eindruck von der Vergangenh­eit bekommen. Der gesamte Bestand von 1800 Schallplat­ten ist erhalten und soll regelmäßig erklingen. Musikkapel­len könnten ebenfalls wieder zum Tanz aufspielen, sagt Schulte to Bühne. „Die Disco soll im Museum leben.“

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Foto: Carmen Jaspersen, dpa Wenn man jung ist, ist einem die Fasse herzlich egal, Hauptsache, drinnen gibt’s Dis co: das Tanzlokal „Zum Sonnenstei­n“in Harpstedt.

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