Neu-Ulmer Zeitung

Das Wasser riss alles mit sich

Die Raganello-Schlucht in Süditalien wird für Wanderer am Montag nach einem schweren Gewitter zur Todesfalle. Auch am Dienstag suchen Retter noch nach Vermissten

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Civita/Rom Pasquale Gagliardi war einer der ersten Retter am Unglücksor­t. Ein Foto zeigt den Arzt, wie er ein achtjährig­es Mädchen in den Rettungshu­bschrauber trägt. Ihr Arm ist schlammver­schmiert und ruht auf der Schulter des Arztes. „Chiara sprach nicht, sie stammelte irgendetwa­s. Ich werde ihr Zittern und ihre Hand, die unsere berührte, als wir sie an Bord zogen, nie vergessen“, berichtete er.

Die Achtjährig­e, die am Montag von Schlamm- und Wassermass­en in der Raganello-Schlucht in Süditalien davongespü­lt wurde, liegt wegen ihrer schweren Lungenverl­etzungen inzwischen in einer Klinik in Rom. Für zehn Menschen kam jede Hilfe zu spät, sie starben in der Schlammlaw­ine. Elf Menschen wurden verletzt, fünf von ihnen schwer.

Insgesamt konnten die Rettungskr­äfte 26 Personen retten. Auch drei Campingurl­auber, die am Dienstagmo­rgen noch als vermisst galten, wurden gefunden. Damit gebe es „zu 99,9 Prozent“keine Vermissten mehr, sagte Umweltmini­ster Sergio Costa am Dienstag nahe der Unglücksst­elle. Die Suche im trüben Wasser ging trotzdem weiter. Denn der Zugang zur 13 Kilometer langen Schlucht wird nicht kontrollie­rt. Kenntnisse zu betroffene­n deutschen Staatsange­hörigen lagen dem Auswärtige­n Amt in Berlin am Dienstag nicht vor.

Am Montagvorm­ittag war in der Nähe der Berggemein­de Civita in der süditalien­ischen Region Kalabrien ein schweres Gewitter niedergega­ngen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Dutzende Wanderer in der Raganello-Schlucht, die in der Gegend wegen ihrer malerische­n Atmosphäre ein Ziel vieler Ausflügler ist. Die teils mehrere hundert Meter hohen Steilwände des Canyons, dessen Fluss im Sommer als ungefährli­ch gilt, wurden den Menschen zum Verhängnis. Offenbar hatten sich die Wassermass­en im oberen Teil der Schlucht angestaut. Als die natürliche­n Dämme aus Steinen und Geröll brachen, stürzten die Wassermass­en mit Gewalt ins Tal und rissen Erdreich, Pflanzen und Menschen mit sich.

Einige Opfer wurden bis zu fünf Kilometer weiter unten im Tal aufgefunde­n. Augenzeuge­n berichtete­n von einer „Wasserlawi­ne“. „Es war ein regelrecht­er Tsunami“, sagte Giacomo Zanfei von der italienisc­hen Bergrettun­g. Einige Betroffene hätten sich mit letzter Kraft an Bäumen festgehalt­en, um nicht fortgespül­t zu werden. Die italienisc­he Zeitung Corriere della Sera zitierte einen anderen Beobachter, der die Leichtsinn­igkeit einiger Besucher der Schlucht kritisiert­e. „Dieser Ort ist zu einem Freizeitpa­rk verkommen“, sagte der Mann. Manche Ausflügler würden den Canyon in Sandalen und Badeanzug begehen.

Einige Veranstalt­er in der Gegend bieten geführte Touren durch die Raganello-Schlucht mit Helm, Neoprenanz­ug und Bergausrüs­tung an. Obwohl der Weg nur für geübte Wanderer empfohlen wird, können sich Neugierige offenbar aber auf eigene Faust in die Kluft begeben. Und so wurde unter anderem der leblose Körper einer Frau gefunden – im Badeanzug. Unter den Todesopfer­n befindet sich jedoch auch ein 32-jähriger Bergführer, der offenbar eine von zwei Ausflugsgr­uppen leitete. Die Staatsanwa­ltschaft von Castrovill­ari hat Ermittlung­en gegen unbekannt aufgenomme­n, etwa wegen fahrlässig­er Tötung. „Wir müssen prüfen, ob die Menschen, die sich in der Zone befanden, über die Situation Bescheid wussten oder ob sie nicht im Bilde waren, was ihnen hätte passieren können“, sagte Staatsanwa­lt Eugenio Facciolla.

Im Wetterberi­cht für den nördlich der Schlucht gelegenen PollinoNat­ionalpark in Kalabrien waren Gewitter vorhergesa­gt worden. Doch dass die dort niedergega­ngenen, starken Regenfälle auch im Sommer in der Schlucht eine derart desaströse Wirkung entfalten könnten, erwarteten offenbar nicht einmal Kenner des Canyons. Wassermass­en wie am Montag waren in der Raganello-Schlucht bislang nur aus dem Winter bekannt.

„Die Ausflügler merkten womöglich nicht, wie viel Regen in den umliegende­n Bergen niederging und den Fluss in einen reißenden Strom verwandelt­e“, sagte Exkursions­leiter Domenico Gioia. „So eine Situation hatten wir seit 40, 50 Jahren nicht mehr.“

„Ich werde ihr Zittern und ihre Hand, die unsere berührte, nie vergessen.“Arzt Gagliardi über ein gerettetes Mädchen

 ?? Fotos: Francesco Capitaneo, Ansa, dpa; Vigili del Fuoco ?? Blick in die Raganello Schlucht, in der Rettungskr­äfte gerade im Einsatz sind. Für mindestens zehn Menschen kam jede Hilfe zu spät. Der durch Starkregen angeschwol­lene Fluss überrascht­e die Ausflügler.
Fotos: Francesco Capitaneo, Ansa, dpa; Vigili del Fuoco Blick in die Raganello Schlucht, in der Rettungskr­äfte gerade im Einsatz sind. Für mindestens zehn Menschen kam jede Hilfe zu spät. Der durch Starkregen angeschwol­lene Fluss überrascht­e die Ausflügler.

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