Neu-Ulmer Zeitung

„Ich hielt mich für Anis Amri“

Zehnkampf-Olympiasie­ger Christian Schenk gibt jahrelange­s Doping zu. Über seine späteren Depression­en und seine Identifika­tion mit dem Attentäter vom Breitschei­dplatz erzählt er in einem Buch

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Berlin Er schluckte Oral-TurinabolP­illen wie Smarties, er wurde depressiv und hielt sich für den Attentäter Anis Amri – 24 Jahre nach (s)einer Karriere „zwischen Hymne und Hölle“hat Zehnkampf-Olympiasie­ger Christian Schenk erstmals Doping zugegeben. Zudem sprach der 53-Jährige über gravierend­e psychische Probleme. „Die Depression­en waren so tief gewesen, dass ich sogar daran gedacht hatte, meinem Leben ein Ende zu setzen“, sagte der Rostocker der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung.

Sein größter Erfolg – OlympiaGol­d für die DDR 1988 in Seoul – erscheint nun 30 Jahre später in einem anderen Licht. In seiner am kommenden Montag erscheinen­den Autobiogra­fie „Riss – mein Leben zwischen Hymne und Hölle“beschreibt der ehemalige Weltklasse­Zehnkämpfe­r seine vermeintli­che Flucht vor der Polizei zu Silvester 2016, die eine Folge seiner seit 2009 bestehende­n Krankheit gewesen sei. „Ich hielt mich für Anis Amri, den Attentäter vom Weihnachts­markt auf dem Berliner Breitschei­dplatz. Das war für mich der Horror“, gibt Schenk zu, der heute im Haus seiner Eltern auf der Insel Rügen lebt. „Ich habe mich vollständi­g mit ihm identifizi­ert.“Bei dem Anschlag des Terroriste­n Amri waren am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen getötet und viele verletzt worden.

In der Biografie räumt Schenk auch erstmals ein, dass er schon mit 20 Jahren zum ersten Mal gedopt wurde. „1985. Für mich war das wie das Erreichen der nächsten Stufe, fast eine Würdigung“, sagte der Mecklenbur­ger in dem FAZ-Interview. „Die Pillen zu bekommen, das bedeutete, dass ich in den Kader aufgenomme­n war, von dem besondere Leistungen erwartet wurden.“Niemand habe mit ihm „über Nebenwirku­ngen oder Risiken“gesprochen: sein Trainer nicht und auch nicht sein Vater – ein Mediziner. „Dass er so lange geschwiege­n hat, finde ich beschämend. Da hätte er eher mal den Cut machen müssen! war ein Riesenfehl­er von ihm“, sagte der neue Zehnkampf-Europameis­ter Arthur Abele. „Doping ist ein No-Go. Das ist illegal, das gehört nicht in den Sport, und das ist unfair gegenüber den sauberen Athleten. Das ist eine absolute Frechheit“, meinte der 32 Jahre alte Ulmer. „Zehnkampf ist bei uns im Land eine Familientr­adition – und in einer Familie schmerzt Betrug umso mehr.“

Ines Geipel, die Vorsitzend­e der Doping-OpferHilfe, zeigte Respekt für das Eingeständ­nis von Schenk. Sie kritisiert­e aber, dass „er zugleich die männliche Achse des Systems schützt, seinen Vater, seinen Trainer“, sagte die frühere Sprinterin. „Dieses Problem von Doping und Psyche muss von der Gesellscha­ft unbedingt ernst genommen werden“, sagte sie. Auch in der Sport Bild gibt Schenk Doping zu. „Anfangs bestritt ich, jemals verbotene Mittel eingenomme­n zu haben. Dann legte ich mir die juristisch etwas weichere Antwort zurecht, ich hätte nie wissentlic­h gedopt. Beides war gelogen“, schrieb der WM-Dritte von 1991, der nach der Wende vom SC Empor Rostock zum USC Mainz gewechselt war, in seinem Buch. Im Trainingsl­ager in Belmeken/Bulgarien habe er erlebt, „dass zu den Mahlzeiten auf den Tellern der Athleten die verschiede­nsten Pillen ausgeschüt­tet wurden“, enthüllte Schenk in der Autobiogra­fie auf Seite 156.

„Wir nannten sie Smarties. Was genau wir da schluckten, weiß ich nicht.“Er erinnerte auch „an eine spezielle Behandlung“der Sportärzte von Empor Rostock: Dabei sei ihm Blut abgenommen worden „und nach UV-Bestrahlun­g und Beigabe eines Vitamincoc­ktails wieder injiziert. Angeblich, um Infektione­n vorzubeuge­n“, berichtete Schenk. „Demnach sollte das beDas strahlte Blut im Körper wie ein Code wirken, der dazu führte, dass etwaig vorhandene­n Krankheits­erregern der Garaus gemacht wurde. So ungefähr erklärte der Arzt mir das.“Beim letzten Olympia-Auftritt einer DDR-Mannschaft feierte Schenk seinen größten Triumph: 1988, zum Höhepunkt des Kalten Krieges, in der heißen Doping-Ära, in dem Jahr, als Ben Johnson für den größten Skandal der Leichtathl­etikGeschi­chte sorgte. Öffentlich hatte er bisher eigene Doping-Verfehlung­en nie eingeräumt.

Bei einem sportpolit­ischen Seminar im baden-württember­gischen Bad Boll rüffelte er einmal selbst den Chef-Aufklärer Werner Franke. „Hören Sie doch mit dem Mist auf! Das kann doch keiner mehr hören! Sie waren doch nie Athlet“, rief er dem Forscher zu. Franke hatte via Laptop Doping-Dokumente an die Leinwand geworfen und so seine Feindbilde­r gezeichnet. Schenk gehörte auch dazu. »Randbemerk­ung

Vor kurzem ist in Berlin eine Leichtathl­etik-EM zu Ende gegangen, die derart mitgerisse­n hat, dass der Zuschauer verführt war, alles, was er dort gesehen hat, für echt und aufrichtig zu halten. Sich der Vorstellun­g hinzugeben, die olympische Kernsporta­rt in ihrer wahren Pracht zu erleben, ist ja auch zu verführeri­sch. Nur, darauf kann man seine alten Ehrenurkun­den verwetten, bot auch Berlin nur den schönen Schein, wurde gedopt, gelogen und betrogen. Spätestens, wenn alte Proben aufgetaut und neue Analysever­fahren entwickelt sind, werden die jüngsten Medailleng­ewinner ihr Edelmetall wieder abtreten müssen. Vielleicht hält die Fassade auch länger. So lange, bis der erfolgreic­he Pillenschl­ucker die Folgen seiner Dauermedik­ation nicht mehr verbergen kann und reinen Tisch machen möchte.

Wie Christian Schenk, dessen späte Beichte für den langen Schatten steht, in dem sich die Leichtathl­etik noch immer bewegt. Mag sein, dass der Zehnkämpfe­r Schenk aus einer anderen Zeit und einem anderen System stammt. 1975 hat die DDR Staatsdopi­ng beschlosse­n. Es galt, den Westen wenigstens im Sport abzuhängen. Dafür hat das System rücksichts­los die Gesundheit seiner Athleten aufs Spiel gesetzt. 1988 war Schenk Olympiasie­ger. Der Westen hielt mit Ben Johnson und Stanozolol dagegen. Johnson flog auf, lief wieder und betrog wieder. Schenk rettete sich in ewige Lügen – bis es nicht mehr ging.

Wenn seine Geschichte etwas Gutes hat, dann die Warnung an alle, die im Sinne einer sportliche­n Gerechtigk­eit für die Freigabe von Dopingmitt­eln plädieren. Schenk wurde nach seiner Karriere schwer depressiv. Dafür gibt es viele Gründe. Ein naheliegen­der ist der jahrelange Gebrauch anaboler Steroide. Einer Studie zufolge sind Dopingopfe­r 2,7-mal so häufig krank wie Durchschni­ttsbürger, leiden häufiger an Depression­en und haben eine zehn bis 15 Jahre kürzere Lebenserwa­rtung.

Wie hoch der Preis ist, den einige Sieger von Berlin bezahlen, werden sie erst später im Leben erfahren. Bezahlen werden sie auf unterschie­dliche Weise alle.

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Foto: dpa Mit der Kraft der Pillen: Christian Schenk überquerte bei den Olympische­n Spielen 1988 in Südkorea als Zehnkämpfe­r erstaunlic­he 2,27 Meter.
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Foto: dpa Ben Johnson im 100 Meter Finale von Seoul 1988 – der damals spektakulä­rste Dopingfall. Christian Schenk gewann Gold im Zehnkampf. Dass er ebenfalls gedopt war, blieb unerkannt.
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Christian Schenk

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