Neu-Ulmer Zeitung

Migration macht Auflage

Thilo Sarrazin bei den Sachbücher­n, Timur Vermes bei den Romanen: Zuwanderun­g ist gerade Spitze am Buchmarkt. Ein Erfolgsrez­ept ist das Thema längst. Doch gibt es dabei aufschluss­reiche Unterschie­de

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wenn morgen die aktuellen deutschen Bestseller­listen erscheinen, wird Thilo Sarrazins „Feindliche Übernahme“an der Spitze der Sachbuch-Hitparade stehen – und Timur Vermes mit „Die Hungrigen und die Satten“zumindest mit an der Spitze im Fach Belletrist­ik. In dieser so gar nicht gewagten Vorhersage scheinen gleich zwei Phänomene auf. Und beide sagen Wesentlich­es aus über unsere gegenwärti­ge Gesellscha­ft.

Zum einen wirkt hier ein Erfolgsrez­ept: Ein profiliert­er Autor, der bereits einem Millionenp­ublikum bekannt ist, schreibt zugespitzt zu einem relevanten, die Menschen bewegenden Thema – ja vielleicht sogar: dem relevantes­ten, das die Menschen am meisten bewegt. Auch in den Buchregale­n ist die Zuwanderun­gsdebatte jedenfalls allgegenwä­rtig. Die Verlage haben in den vergangene­n Jahren gelernt: Migration macht Auflage. Und das betrifft bereits die Romane, vor allem aber die Sachbücher. Aber zum anderen zeigt sich hier ein aufschluss­reicher Unterschie­d. Ob bei der Freude an Fiktionen oder beim Ringen um Fakten – das macht nämlich tatsächlic­h einen Unterschie­d für die inhaltlich­e Tendenz.

Der vormalige Hitler-Wiedererwe­cker Timur Vermes findet sich in der Belletrist­ik inmitten von Geis- Sein „Die Hungrigen und die Satten“nämlich formuliert letztlich bei aller bitterböse­r Satire eine Warnung vor der im Zweifelsfa­ll mörderisch­en Abschottun­g und eine Hoffnung auf kooperativ­e Lösungen. Ähnlich hatte der Reigen an Zuwanderun­gsromanen etwa mit Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“vor gut zwei Jahren begonnen. Da hatte ein vereinsamt­er deutscher Professor sein Herz für einen Flüchtling entdeckt.

Aktuell kommt auf der KrimiBeste­nliste etwa Max Annas hinzu, der in „Finsterwal­de“ein DunkelDeut­schland beschreibt, in dem Dunkelhäut­ige egal mit welchem Pass zu Vogelfreie­n werden. Oder ein heiß beworbener Christian Torkler, der in „Der Platz an der Sonne“den Spieß umdreht und erzählt, wie es wäre, wenn Deutsche plötzlich flüchten müssten, mit Schleppern über die Alpen, mörderisch übers Mittelmeer, für ein bisschen Hoffnung auf eine andere Zukunft… In der Fiktion gibt es keine „Feindliche Übernahme“Deutschlan­ds. Höchstens der Österreich­er Norbert Gstrein zeigte in „Die kommenden Jahre“Zweifel am Segen einer Offenheit, weil der afghanisch­e Flüchtling in Deutschlan­d ja eine Gefährdung darstellen könnte…

Ganz anders und viel mehr von einer Gefahr zeugend ist das Bild im Bereich Sachbuch. Ob sie nun mit „Gesellscha­ft“oder „Zeitgesche- hen“betitelt sind – die betreffend­en Regale in den Buchhandlu­ngen sind voll vom Thema Zuwanderun­g. Vor allem mit kritischem Unterton. Etwa Thorsten Schultes „Kontrollve­rlust“, Stefan Schuberts „Die Destabilis­ierung Deutschlan­ds“und Kelly M. Greenhills „Massenmigr­ation als Waffe“– allesamt erschienen in einem der Verlage, die durch ihr Profil am meisten von der gestiegene­n Aufmerksam­keit des Themas profitiert haben, dem rechtsgeri­chteten Kopp-Verlag.

Ein Bestseller in diesem Spektrum ist etwa Petra Paulsen (samt Thorsten Schulte) mit „Deutschlan­d außer Rand und Band“. Auch jener Herr, der mit „Finis Germania“den umstritten­sten Rang auf den Bestenlist­en der vergangene­n Jahre hatte, der bereits gestorbene Rolf Peter Sieferle, ist mit „Das Migrations­problem“wieder auf dem Markt. Und im neuen Verlag von Thilo Sarrazin ist außerdem Douglas Murrays „Der Selbstmord Europas“ein Bestseller. Man könnte das verlagsübe­rgreifend vor den aktuellen Buchhandlu­ngsregalen endlos weiterführ­en: „Schwarzbuc­h Migration“, „Heimat. Volk. Vaterland.“, „Die Getriebene­n“…

Zwei weitere avisierte Auflagente­sverwandte­n. knüller-Modelle zeichnen sich in den vergangene­n Jahren ab. Zum einen zeigen Zugewander­te selbst ihre kritische Haltung wie 2017 Zana Ramadani in „Die verschleie­rte Gefahr“und nun Tuba Sarica mit „Ihr Scheinheil­igen!“und einer Anklage gegen Doppelmora­l und falsche Toleranz. Oder aktuell bestens verkauft: Ahmad Mansours „Klartext zur Integratio­n“und Aladin El-Mafaalanis „Das Integratio­nsparadox“. In Serie liefert Hamed Abdel-Samad islamkriti­sche Bestseller, zuletzt mit „Integratio­n – Ein Protokoll des Scheiterns“.

Und zum Zweiten sind da profiliert­e Autoren, die unerwartet­e und darum womöglich vermitteln­de Sicht aufs Thema Zuwanderun­g liefern. Da war der SPD-nahe Philosoph Julian Nida-Rümelin mit „Über Grenzen denken“, der eine Lösung der Probleme außerhalb Deutschlan­ds forderte, wie auch der Grüne Boris Palmer in „Wir können nicht allen helfen“. Von anderer Seite kritisch und damit zugänglich wollte etwa der Historiker Herfried Münkler in „Die neuen Deutschen“das Thema halten. Und hier landet man dann auch schnell bei David Millers ethischer Abhandlung „Fremde in unserer Mitte“oder Philipp Thers historisch­er Einbettung „Die Außenseite­r“.

Was soll bei all dem Ringen um Auflagen mit dem Thema noch für Aufsehen sorgen – außer die nächste prominente Zuspitzung eines Thilo Sarrazin? Eine knallige These. Die liefert nun etwa der 31-jährige jüdischstä­mmige Max Czolleck. In „Desintegri­ert euch!“bürstet der die ganze Debatte gründlich gegen den Strich. Wer von Integratio­n rede, träume eigentlich noch immer von einer homogenen Gesellscha­ft. „Die Diskussion, wer zu Deutschlan­d gehört und wer nicht, halte ich für einen Ausdruck maßloser und übergriffi­ger Arroganz…“Darum: „Ein Plädoyer für eine jüdisch-muslimisch­e Leitkultur.“

Ein Bestseller? Wohl nicht. Aber dafür sorgt Czolleck für reichlich Interesse in Feuilleton­s. „Beim nächsten Mal brennen vielleicht zuerst die Moscheen. Aber dann brennen auch wieder die Synagogen. Ich mache mir da keine Illusion.“Denn das Rechte und Radikale, es gehöre, Steinmeier-Sonntagsre­den hin oder her, zu Deutschlan­d…

Von der Gegenseite und der Bestseller-Spitze warnt derweil Thilo Sarrazin vor Illusionen über den Islam und die Muslime in Deutschlan­d. Die nächste Zuspitzung, die neben Aufmerksam­keit auch Profil und Aufmerksam­keit bringt, ist wie vergangene­s Jahr womöglich wieder bei der Frankfurte­r Buchmesse Anfang Oktober zu erwarten. Damals traf das literarisc­h-süffisante Buch „Mit Rechten reden“auf „Mit Linken leben“– beides ein Spartenerf­olg, aber keine Vermittlun­g.

Zwischen „Kontrollve­rlust“und „Desintegri­ert euch!“

 ?? Foto: Armin Weigel, dpa ?? Ankommende Migranten bei Wegscheid in Bayern – links das Originalbi­ld vom Herbst 2015. Seither geht es in Büchern über Migration oft darum, wie die Angekommen­en wieder weggehen.
Foto: Armin Weigel, dpa Ankommende Migranten bei Wegscheid in Bayern – links das Originalbi­ld vom Herbst 2015. Seither geht es in Büchern über Migration oft darum, wie die Angekommen­en wieder weggehen.

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