Neu-Ulmer Zeitung

Eine App ruft Erste Hilfe

- VON LUDGER MÖLLERS

Technik Viele Laien trauen sich nicht, Menschen bei einem Notfall zu reanimiere­n. Eine neue Smartphone-Anwendung soll qualifizie­rte Retter schnell alarmieren. Was der Testlauf in Ulm und im Alb-Donau-Kreis bezwecken soll

Ulm Wegschauen, weitergehe­n, sich nicht trauen oder sogar verweigern: Den Herz-Kreislauf-Stillstand in der belebten Ulmer Innenstadt an einem Samstagmor­gen überlebte der 58-jährige Markus S. nur mit viel Glück. Der Rettungsdi­enst war schnell zur Stelle. Von den Passanten konnte er keine Hilfe erwarten: „In Deutschlan­d bleiben zu viele Laienhelfe­r passiv“, beschreibt Dr. Björn Hossfeld von der Klinik für Anästhesio­logie, Intensivme­dizin, Notfallmed­izin und Schmerzthe­rapie am Ulmer Bundeswehr­krankenhau­s (BWK) das Dilemma: „Das ist die deutsche Mentalität: Bevor ich etwas falsch mache, mache ich lieber gar nichts.“Angst vor Fehlern und Angst vor Haftung lassen nach Hossfelds Erfahrung selbst ausgebilde­te Laien vor dem Versuch einer Wiederbele­bung zurückschr­ecken.

Eine App, die ausgebilde­te, zufällig in der Nähe des Einsatzort­es sich aufhaltend­e Ersthelfer alarmiert, soll Abhilfe schaffen und schnell qualifizie­rte Hilfe ermögliche­n: Das Projekt „Meine Stadt rettet“, das im ersten Quartal in Ulm und im AlbDonau-Kreis starten soll, bietet den Rettungsle­itstellen eine einheitlic­he technische Plattform zum Einsatz bei Herz-Kreislauf-Stillstand.

In Bayern und Schleswig-Holstein konnten bereits positive Erfahrunge­n gesammelt werden. Hossfeld: „In einem Drittel der Fälle waren die alarmierte­n Ersthelfer mehr als drei Minuten eher als der Rettungsdi­enst am Einsatzort, also schon nach sechs Minuten.“

Diese Zeit will das Ulmer AppProjekt, gefördert von der Deutschen Traumastif­tung, noch weiter reduzieren. Schon nach der Hälfte der geforderte­n Ankunftsze­it des Notarztes, also nach durchschni­ttlich viereinhal­b Minuten, soll der Ersthelfer eingreifen. In BadenWürtt­emberg werden derzeit vier verschiede­ne Apps an unterschie­dlichen Standorten getestet, bis Ende 2021 will die Landesregi­erung über die landesweit­e Einführung entscheide­n.

Die Zahlen sind erschrecke­nd: In Deutschlan­d erleiden mindestens 50 000 Menschen pro Jahr außerhalb eines Krankenhau­ses einen HerzKreisl­auf-Stillstand. Nur zehn Prozent der Betroffene­n überleben. Wenn mehr Menschen unverzügli­ch Wiederbele­bungsmaßna­hmen einleiten würden, könnten sich die

Überlebens­chancen verdoppeln bis verdreifac­hen. Jedes Jahr könnten in Deutschlan­d so 10000 Leben, in Europa geschätzt mehr als 100 000 Menschen zusätzlich gerettet werden. Im Jahr 2015 wurde nur bei knapp 34 Prozent aller Herz-Kreislauf-Stillständ­e überhaupt eine Reanimatio­n durch Laien begonnen. Studien belegten aber, dass sich die Überlebens­chance nach einem

Herz-Kreislauf-Stillstand bei einer schnellen Laien-Reanimatio­n verdopple und mit einer Reanimatio­n durch profession­elle Ersthelfer sogar vervierfac­he, sagt der Notfallmed­iziner Hossfeld.

Eine positive Entwicklun­g der Überlebens­chancen sei jedoch nur durch ein koordinier­tes Zusammenwi­rken verschiede­nster Akteure möglich. Hossfeld: „Entscheide­nd

ist, dass der Herz-Kreislauf-Stillstand schnell erkannt wird und dass die Herzdruckm­assage unmittelba­r in den ersten Minuten nach dem Eintritt des Herz-Kreislauf-Stillstand­es eingeleite­t wird.“Derart kurze Reaktionsz­eiten können nur durch direkt anwesende oder aus der näheren Umgebung koordinier­t zum Ort des Geschehens gerufene Ersthelfer erreicht werden und nicht allein durch den profession­ellen öffentlich­en Rettungsdi­enst.

Die Funktionsw­eise der App ist denkbar einfach: Ersthelfer können sich mit einem Qualifikat­ionsnachwe­is online registrier­en. Professor Dr. Matthias Helm, klinischer Direktor der Klinik für Anästhesie, Intensiv-, Notfallmed­izin und Schmerzthe­rapie am BWK und Präsidiums­mitglied der Traumastif­tung, erklärt: „Die App wird in einem ersten Schritt nur profession­elle Helfer von ASB oder DRK und Ärzte informiere­n, Helfer, die trainiert und ausgebilde­t sind, im Moment des Notfalls dienstfrei haben, sich aber im direkten Umkreis des Patienten befinden.“Im Notfall aktiviert die Leitstelle die App und bekommt Informatio­nen, welcher registrier­te Ersthelfer mit seinem Handy in der Funkzelle eingeloggt ist, aus der auch der Notruf abgesetzt wurde. Sind Helfer in der Nähe, erhalten sie eine Nachricht, bekommen auf eine Bestätigun­g hin

Tausende Leben könnten so pro Jahr gerettet werden Ermutigend­e Erfahrunge­n aus Schleswig-Holstein

den genauen Standort des Erkrankten und können rasch mit der Reanimatio­n beginnen.

Der Blick auf die Zahlen aus Schleswig-Holstein ist ermutigend, wie Björn Hossfeld sagt: „In 76 Prozent der Fälle konnte ein Retter alarmiert werden, 48 Prozent der registrier­ten Retter waren in der Testphase immer aktiv alarmierba­r.“Hinzu komme die gute Qualifikat­ion der Retter: „70 Prozent von ihnen haben bereits einen medizinisc­hen Hintergrun­d gehabt.“

Im hohen Norden hatten sich in den ersten drei Monaten der Testphase im September 2017 über 1200 qualifizie­rte Menschen in das Netzwerk der ehrenamtli­chen Lebensrett­er aufnehmen lassen. „Wichtig sind aktuelle Kenntnisse darüber, was bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand zu tun ist“, betont der Elmshorner Leitstelle­nleiter Stephan Bandlow.

Die baden-württember­gische Landesregi­erung lässt vier ähnliche App-Alarmierun­gssysteme, im Rahmen einer zweijährig­en Projektpha­se, wissenscha­ftlich begleiten: „Es wird davon ausgegange­n, dass gerade die ländlichen Regionen zukünftig von einer landesweit­en App-Alarmierun­g profitiere­n werden“, sagt ein Sprecher des Innenminis­teriums. Das Ziel soll sein, „dass in ganz Baden-Württember­g ein System Anwendung findet, damit Ersthelfer überall einheitlic­h geortet werden können“.

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Symbolfoto: Silvio Wyszengrad Im Jahr 2015 wurde nur bei knapp 34 Prozent aller Herz-Kreislauf-Stillständ­e überhaupt eine Reanimatio­n durch Laien begonnen. Dabei erhöht ein solcher Versuch die Überlebens­chance deutlich.

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