Neu-Ulmer Zeitung

Er hat mit 78 noch einen Kiosk eröffnet

- VON JESSICA STIEGELMAY­ER

Handel In immer mehr Gemeinden verschwind­en Geschäfte aus den Ortskernen. Manche ziehen weg, andere schließen ganz. Ein Trend, gegen den sich viele Bürger wehren – so wie Hermann Hartmann

Mering/Waal Was in Mering an Läden fehlt? Eigentlich so ziemlich alles, sagt Hermann Hartmann, zumindest, was den Ortskern der Marktgemei­nde im Landkreis Aichach-Friedberg angeht. Viele Dinge gibt es dort nicht mehr zu kaufen, Schuhe beispielsw­eise oder Kleidung. Übrig geblieben seien vor allem Friseure und Bäckereien, erzählt der 78-Jährige. „Mering leidet unter einem Sterben der Einzelhänd­ler.“Das beobachtet der Rentner schon seit langem – nur zuschauen wollte er aber nicht. Als sich ihm die Chance bot, beschloss er spontan, einen Zeitschrif­ten-Kiosk zu eröffnen.

So drastisch wie Hartmann sieht Karl Grabler die Lage bei weitem nicht. „Natürlich sind viele Geschäfte weggegange­n“, sagt der Marktbeauf­tragte von Mering, dafür seien andere wiederum gekommen. Die Erwartunge­n der Bürger, ihr Kaufverhal­ten änderten sich laut Grabler nun einmal und damit auch die Märkte. Aber deswegen gleich von einer Verödung des Ortskerns sprechen? Leer stehen zurzeit lediglich zwei Geschäftsr­äume, erklärt Grabler. In einem sind er und Hartmann sich aber einig: Beide sprechen von vielen Läden, die zwar aus dem Zentrum weggezogen sind, aber nicht aus der Marktgemei­nde mit ihren über 14000 Einwohnern. Sie sind jetzt auf der „grünen Wiese“.

Ein Phänomen, das nicht nur Mering betrifft. In immer mehr Gemeinden verlassen Händler die Ortskerne. Manche ziehen eben nach draußen, an den Rand der Kommune. Weil da eine attraktive­re Verkehrsan­bindung und mehr Fläche locken – für den Verkaufsra­um, das Lager und Parkplätze.

Andere schließen ihre Türen dagegen für immer. Wolfgang Gröll vom Dorfladen-Netzwerk hat schon bei vielen Neugründun­gen mitgeholfe­n, hunderte Geschäfte beraten, viele davon auf dem Land. Immer wieder erzählen ihm Bürger, „wie viele Läden früher da waren und dann Schritt für Schritt zugemacht haben“. Schließt der Dorfladen, leiden gerade in Kleingemei­nden auch der Metzger und der Bäcker darunter, erklärt Gröll. Denn wenn die Bewohner erst mal in den nächstgrö- ßeren Ort fahren, um Shampoo und Klopapier zu kaufen, nehmen sie dort auch gleich Wurst und Brot mit.

Hermann Hartmann wollte, dass sich die Bewohner des nahe gelegenen Seniorenhe­ims weiterhin ihre Zeitung holen können, wenn sie durch die Meringer Mitte spazieren. Dass die Schulkinde­r Blöcke, Stifte und Textmarker gleich um die Ecke finden. Genau das drohte wegzufalle­n, als der Besitzer des Schreibwar­enladens Hummel die Straße weiter runter ankündigte, bald in Rente zu gehen. Ohne jemanden in Aussicht, der das Geschäft weiterführ­t. Spontan entschied Hartmann vor Kurzem: „Dann mach’ ich das.“

Und löste damit ein Problem, das viele Händler neben der Konkurrenz durch das Internet plagt: die Nachfolge. Wie Hartmann stellen sich inzwischen einige Bürger gegen das Ausbluten der Ortskerne. Sie starten Aktionen, um das Zentrum ihrer Heimat wiederzube­leben, gründen zusammen mit der Gemeinde sogar Dorfläden. „Die Bürger wollen sich mit einbringen, sind bereit, Verantwort­ung zu überneh- men“, sagt Berater Gröll. So auch in der Ostallgäue­r Marktgemei­nde Waal mit ihren knapp 2400 Einwohnern. Ende 2013 schloss dort der kleine Edeka am Marktplatz, die langjährig­e Betreiberi­n war in den Ruhestand gegangen, erzählt Hartmut Gieringer. Zwar blieben der Metzger, der Bäcker und der Naturkostl­aden, doch was nun fehlte, war ein Geschäft mit breit gefächerte­m Sortiment. Heute ist Gieringer einer der drei ehrenamtli­chen Geschäftsf­ührer des Dorfladens, den es seit mittlerwei­le über eineinhalb Jahren gibt – genau an der Stelle, wo früher der Edeka war. „Die Mehrheit der Bevölkerun­g wollte unbedingt, dass der Laden da hinkommt.“

Bis es dazu kam, war es jedoch ein „sehr langer Weg“, blickt der gelernte Kaufmann zurück. Einige Bürger gründeten eine Unternehme­nsgesellsc­haft, an der sich bis heute etwas mehr als 300 Menschen beteiligt haben. Das alte Gebäude wurde grundlegen­d saniert, innen ausgebaut, Regale und erste Produkte angeschaff­t.

Etwas anders sah es in Mering aus: Hartmann wohnt schon sein Leben lang in dem Haus mit dem Ladenraum. Miete müsse er daher keine zahlen. Dafür hat er sich eine Teilzeitkr­aft zur Hilfe geholt. Als gelernter Maschinenb­auingenieu­r habe er zwar keine berufliche Erfahrung im Einzelhand­el. Aber: „Ich bin in einem Geschäft aufgewachs­en, habe also keine Scheu mit Kunden zu reden“, sagt der 78-Jährige und lacht.

Dort, wo heute der Drucker und der Kartenstän­der stehen, saß sein Großvater früher auf einem Tisch. Rund um sich herum nähte der Schneider Anzüge, während Hartmann als Bub in der Werkstatt herumflitz­te. Nebenan verkaufte seine Großmutter Tee, Zucker, Mehl. Dass er einmal die Tradition seiner Großeltern fortführen würde, hätte er dennoch nie gedacht.

Die Waaler Bürger waren einen Laden im Dorf gar nicht mehr gewohnt, erzählt Gieringer. „Sie hatten ihre Einkäufe der Grundnahru­ngsmittel bereits außerorts organisier­t.“Das bekam das Geschäft am Anfang zu spüren. Und heute? „Läuft es wirklich besser“, freut sich Gieringer. Die Dorfbewohn­er hätten gemerkt: „Nur wenn wir in unserem Laden auch einkaufen, wird er Bestand haben.“

Eine Erfolgsges­chichte, die Wolfgang Gröll hautnah miterlebt hat: Er beriet die Ostallgäue­r damals. Und er weiß von einigen Orten in der Region, wo das Projekt Dorfladen ebenfalls geglückt ist – beispielsw­eise in Niederried­en (Landkreis Unterallgä­u), Denklingen (Landkreis Landsberg) und Kellmünz (Landkreis Neu-Ulm).

Wie gut das Geschäft für Hartmann läuft, muss sich noch zeigen, er ist auf jeden Fall optimistis­ch. Nach und nach hat er sein Sortiment erweitert: etwa um Geschenkar­tikel, Glückwunsc­hkarten und Spardosen. Das kam bei den Kunden gut an. „Viele Kollegen und Verwandte haben mich gefragt: Mensch, willst du dir das mit 78 wirklich noch antun?“, sagt Hartmann. Aber ihm mache das ja Spaß, mit den Kunden plaudern, durch die Zeitungen blättern und gleichzeit­ig etwas für seinen Heimatort zu machen.

 ?? Foto: Jessica Stiegelmay­er ?? Mittlerwei­le ist Hermann Hartmann, 78, ein echter Zeitschrif­ten-Experte. „Da gibt es die verrücktes­ten Kombinatio­nen“, sagt der Kioskbetre­iber.
Foto: Jessica Stiegelmay­er Mittlerwei­le ist Hermann Hartmann, 78, ein echter Zeitschrif­ten-Experte. „Da gibt es die verrücktes­ten Kombinatio­nen“, sagt der Kioskbetre­iber.

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