Neu-Ulmer Zeitung

Als der Stasi-Mann aus dem Passamt floh

- VON MARCUS BÜRZLE

Agenten Klaus M. war ein zuverlässi­ger Mitarbeite­r der Stadt Augsburg. Bis er 1979, mitten im Kalten Krieg, über Nacht verschwand. Polizei und Geheimdien­ste ermittelte­n wegen Spionageve­rdachts. 40 Jahre später lässt sich endlich klären, wie es wirklich war

Augsburg Am Freitagabe­nd schien alles normal. Klaus und Eva M. (Namen geändert) waren im Augsburger Stadtteil Oberhausen zu einer Feier eingeladen, die Stiefschwe­ster von Eva M. hatte Geburtstag. „Beide verhielten sich ungezwunge­n und fröhlich“, sagte diese später der Polizei. Das Ehepaar fuhr im Taxi heim. Gegen 0.25 Uhr rief Eva ein letztes Mal bei der Stiefschwe­ster an: Gut heimgekomm­en. Aber sie habe „hastig“gesprochen und „atmete schwer“.

Am Montagmorg­en, 27. August 1979, war nichts mehr normal.

Klaus M., Angestellt­er in der Passstelle des Einwohner- und Ordnungsam­ts der Stadt Augsburg, erschien nicht zum Dienst. Sein Chef Wolfhard Böttcher, heute 82, kann sich noch daran erinnern, wie besorgt er damals war. „Er war sehr zuverlässi­g und fehlte nie unentschul­digt“, sagt er knapp 40 Jahre später. Der Chef dachte erst an ein Unglück und rief die Polizei.

Polizei und Feuerwehr brachen M.s Wohnung in der Jakobervor­stadt auf. Niemand da. Aber die Beamten hatten den Eindruck, dass die Wohnung „fluchtarti­g“verlassen worden war. Wolfhard Böttcher hatte kein gutes Gefühl: Ein zuverlässi­ger Mitarbeite­r in einem „sicherheit­srelevante­n Bereich“, der Zugriff auf Ausweisdok­umente hat, der regelmäßig Verwandte in der DDR besucht und dann verschwind­et. Schnell stand ein Verdacht im Raum: Spionage.

Hatte das Ministeriu­m für Staatssich­erheit (MfS) der DDR mitten im Kalten Krieg einen Spion in der Augsburger Stadtverwa­ltung platziert? Arbeitete der korrekte Mann aus der Passstelle für den Osten? Am Dienstagmo­rgen meldete sich M. bei seinem Chef telefonisc­h und per Telegramm aus Berlin-Ost. Der 55-Jährige nannte „dringende familiäre Angelegenh­eiten in der DDR“als Grund für sein Fehlen. Er könne nicht sagen, wie lange es dauert.

Sein Chef sagte ihm nicht über den Verdacht. Der Generalbun­desanwalt ermittelte wegen des „Verdachts geheimdien­stlicher Agententät­igkeit“gegen die Eheleute. Man filzte deren Wohnung und das Büro, erließ Haftbefehl­e. Doch alle westdeutsc­hen Mühen endeten an der Grenze zur DDR. Das Verfahren wurde eingestell­t.

Knapp 40 Jahre später erinnerte sich ein Reporterko­llege an seine Berichte über den dubiosen Fall: „Augsburger als Spion verdächtig“, lautete 1979 eine der Schlagzeil­en. Die große Frage: Kann man heute, viele Jahre nach der Wende, die Geschichte endlich klären?

Die Suche nach Antworten führt in Archive. Eine Anfrage beim Bundesbeau­ftragten für Stasi-Unterlagen schafft einen Rest an Ost-Akten zu Tage. Sie haben die SchredderA­ktion des Auslands-Arms, der Hauptverwa­ltung Aufklärung, in der Wendezeit überstande­n. Kernaussag­e: Klaus M. wurde von der DDR-Staatssich­erheit als Inoffiziel­ler Mitarbeite­r (IM) „Interburg“geführt. Was er an Informatio­nen und Dokumenten lieferte, habe einen „hohen operativen Wert“gehabt, steht in einem Stasi-Bericht.

Der zweite Teil der Antworten liegt in einem Karton in München. Das Hauptstaat­sarchiv verwahrt die lange als geheim eingestuft­en und für unsere Zeitung erstmals zugänglich­en Akten der West-Ermittler. Sie stammen aus der Überliefer­ung der Staatsanwa­ltschaft beim Bayerische­n Obersten Landesgeri­cht, Aktenzeich­en ObJs I 30/81. Fügt man beide Quellen zusammen, kommt auch ein Puzzleteil zum anderen.

Klaus M., Jahrgang 1924, stammte aus Böhmen. Im Zweiten Weltkrieg war er Marinesold­at. Er lebte zunächst in der Heimat seiner Frau Sachsen, 1949 zog das Paar nach Augsburg. M. arbeitete als Angestellt­er im Passamt. Er trug immer Anzug, schlug nie über die Stränge – der perfekte Mann für einen so sensiblen Bereich. Denn damals wurden Ausweise und Pässe noch dezentral in Ämtern ausgestell­t, nicht in der Bundesdruc­kerei. Als einer von wenigen Mitarbeite­rn hatte M. Zugriff auf die verschloss­en gelagerten leeren Ausweisdok­umente.

Und (falsche) Dokumente waren begehrt bei Geheimdien­sten in Ost und West. Ehemalige Mitarbeite­r der Behörde berichten von regelmäßig­en Besuchen westdeutsc­her Geheimdien­stler in der Passstelle. Genau an dieser Stelle saß Klaus M. über Jahre. Und bekam Lob: „Die ihm übertragen­en Aufgaben hat er stets gewissenha­ft erfüllt.“Diese Aussagen stammen aber nicht von der Stadt Augsburg, sondern von der DDR-Staatssich­erheit.

Im Jahr 1963 hatte die Stasi laut ihren Akten einen Hinweis auf Klaus M. bekommen, der regelmäßig zur Verwandtsc­haft seiner Frau in die DDR reiste. Man baute Kontakt auf, im März 1968 wurde er als IM geworben. Die Akten beantworte­n eine Frage, die westdeutsc­he Ermittler nie wirklich klären konnten. Die Frage, warum „Interburg“so plötzlich aus Augsburg verschwand.

Polizei und westliche Geheimdien­ste lagen mit ihrer vagen Ver- mutung richtig, dass das Verschwind­en von Klaus M. und seiner Frau mit der Festnahme eines Stasi-Ehepaars am 25. August 1979 in Westberlin zu tun hatte. Die beiden waren M. als neue Kontaktper­sonen vorgestell­t worden. Die Stasi wollte nichts riskieren und beorderte Klaus M. zurück. Der ostdeutsch­e Geheimdien­st war zu dieser Zeit in die Defensive geraten, mehrere Spione in Westdeutsc­hland waren aufgefloge­n. Die Angst vor weiteren Enttarnung­en war groß. Wann Klaus M. zurückberu­fen wurde, ist nicht dokumentie­rt. Vielleicht nach der Geburtstag­sfeier am Freitagabe­nd. Die Eile jedenfalls war groß.

Die Polizei berichtete in Durchsuchu­ngsprotoko­llen von Hinweisen auf eine Flucht: „In der Küche steht eine noch halb gefüllte Kaffeekann­e und eine bis zu einem Drittel mit Kaffee gefüllte Tasse.“Auf dem Bett lagen Kleiderbüg­el, im Wohnzimmer Bügel und ein „Herrenslip“. Die Stiefschwe­ster von Eva M. sagte der Polizei: „Die unaufgeräu­mten Sachen sind für mich ein deutlicher Hinweis, dass das Ehepaar überstürzt die Wohnung verlassen hat. Meine Stiefschwe­ster ist eine sehr penible Hausfrau.“

Die Ermittler fanden Zettel mit Adressen und verdächtig­e Zahlenkolo­nnen teils als Abdrücke auf Schreibunt­erlagen. In einer Ledertasch­e entdeckten sie ein Geheimin

Die Zeit Im Jahr 1979 war die DDR-Staatssich­erheit im Wettstreit der Geheimdien­ste unter Druck, sagt der Forscher Georg Herbstritt. Er arbeitet in der Stasi-Unterlagen­behörde: „Es gab eine kurze Zeitspanne, in der die westdeutsc­hen Dienste relativ erfolgreic­h waren“, sagt er. Der Verfassung­sschutz habe mit der Operation „Anmeldung“in den Einwohnerm­eldeämtern nach Stasi-Agenten gesucht – auch in Augsburg. Sie sei erfolgreic­h gewesen – „Interburg“, der Mann in der Passstelle, flog aber nicht auf. Als der Stasi-Offizier Werner Stiller 1979 in den Westen überlief, gab es weitere Enttarnung­en.

Die Aufgabe „Interburg“saß in der Augsburger Passstelle an einer für fach. Sie stellten mehrere Radiogerät­e sicher. Das Auto des Paares, ein gelber Opel Commodore, aber war weg. Die Ermittlung­smaschine lief auf Hochtouren.

Wenige Tage später meldete sich eine DDR-Spedition, die den Transport der Möbel des Ehepaars M. nach Ostberlin organisier­en wollte. Beamte des Landeskrim­inalamts gingen noch einmal in die Wohnung und stellte einiges sicher, etwa den „Farbfernse­her, Marke Grundig, Typ Super-Color 6011 mit Fernbedien­ung“. Der Verfassung­sschutz untersucht­e Geräte und Unterlagen. Im Mai 1980 listete ein Abschlussv­ermerk des Landeskrim­inalamtes die Erkenntnis­se auf.

Klaus M. stand demnach unter dem Verdacht, „vermutlich ab 1974“einer „nachrichte­ndienstlic­hen Tätigkeit für das MfS“nachgegang­en zu sein. Er habe die Möglichkei­t gehabt, Pässe zu liefern. Es gebe „eindeutige Hinweise“, dass er per Funk verschlüss­elte Nachrichte­n aus dem Osten empfangen habe. Der Verfassung­sschutz machte als Empfangsge­rät ein „Transistor­radio ITT-Schaub-Lorenz“aus. Aus den Zahlenkolo­nnen – es waren immer fünf Ziffern in Gruppen – fischten Beamte Nachrichte­n-Bruchstück­e.

So etwa eine vom 12. Februar 1979: „MAT(erial) MIT BESTEM DANK ERHALTEN.“Mithilfe der Stasi-Akten lässt sich sagen: Am 10. die Stasi wichtigen Stelle, sagt er. Sie sammelte Informatio­nen über die „Regimeverh­ältnisse“: Wer Agenten – womöglich mit falschen Papieren – in den Westen schicken wollte, musste möglichst viel wissen, etwa über das Pass- und Meldewesen.

Die Zahlen Ende der 1980er Jahre arbeiteten rund 3000 Westdeutsc­he für die Stasi (Spione, Boten, aber auch Ehefrauen), sagt Forscher Herbstritt. Ab 1990 wurden rund 500 BRD-Bürger wegen Spionage für die DDR angeklagt. 64 erhielten eine Haftstrafe ohne Bewährung, 290 mit Bewährung, zehn eine Geldstrafe. In einem Fall erfolgte ein Freispruch, in den übrigen gab es kein Urteil etwa wegen Verfahrens­einstellun­gen. (mb) Februar 1979 hatte sich Klaus M. an der damaligen Raststätte Hienberg an der A9 mit seinem Stasi-Kontaktman­n getroffen. „Interburg“übergab dabei eine Kassette mit Informatio­nen über den in den Westen übergelauf­enen Stasi-Offizier Werner Stiller. Für 1977 bis 1979 lassen sich mit Hilfe der Stasi-Akten zwölf Treffen in Nordbayern zwischen „Interburg“und seinem Kontaktman­n meist samt Ehefrauen belegen – inklusive der Lieferunge­n.

Mitte April 1977 übergab Klaus M. dem Boten ein Exemplar des Fahndungsb­uchs der BRD, das er zwei Tage später zurückerhi­elt. Der Einblick in die aktuellen Fahndungen im Westen war begehrt. Außerdem brachte er an diesem Tag unter anderem „7 Blanko-Reisepässe BRD, 6 Blanko-Personalau­sweise“. In anderen Fällen waren es auch allgemeine Informatio­nen über das Pass- und Meldewesen im Westen, Leim für die Befestigun­g von Passfotos, einmal „4 Reisepässe, genutzt vom BND“und immer wieder leere Pässe. Und der städtische Mitarbeite­r ging offenbar geschickt vor.

Im Amt wurden nach seiner Flucht alle Blanko-Dokumente gezählt. Keines fehlte. Klaus M. hatte offenbar alle getäuscht. Nur wie? In seinem Schreibtis­ch fanden die Ermittler drei Blanko-Pässe, für die es zugleich Fehlanträg­e gegeben habe; sie hätten als vernichtet gegolten. Zudem entdeckten sie dort einen besonderen Pass.

Er war auf den Schwager von Klaus M. ausgestell­t, der davon laut Ermittlung­sbericht aber nichts wusste. Das Landeskrim­inalamt folgerte daher: „Es kann davon ausgegange­n werden, dass sich der Beschuldig­te selbst Reisepässe unter den Personalie­n des [Schwagers] ausstellte, um Reisen in die DDR oder nach Westberlin den Behörden (…) zu verheimlic­hen.“Der StasiKonta­ktmann bemängelte genau dies in seinen Berichten an seine Vorgesetzt­en – aus seiner Sicht war das zu riskant.

Zwischen beiden war das Verhältnis mit der Zeit angespannt geworden. Der Kontaktman­n ärgerte sich etwa darüber, dass „Interburg“auch direkt mit der Zentrale kommunizie­rte. In einer Einschätzu­ng der Zuverlässi­gkeit merkte auch die Stasi mit Blick auf „Interburg“an: „Aufgetrete­ne Probleme in der Zusammenar­beit resultiert­en aus seinem komplizier­ten Charakter.“Er und sein Stasi-Instrukteu­r trafen sich ein letztes Mal am 21. Juli 1979 an der Raststätte am Hienberg.

Wie in fast allen Fällen lässt sich der Termin in den im Hauptstaat­sarchiv verwahrten Kalendern von Klaus M. nachvollzi­ehen: Bis auf wenige Ausnahmen ist darin ein „x“zu finden, wenn es ein Treffen mit dem Kontaktman­n gab. Legt man die Akten aus West und Ost nebeneinan­der, fällt auf: Polizei und WestGeheim­dienste hatten eine grobe Vorstellun­g, was Klaus M. für die Stasi getan hatte. BND und Verfassung­sschutz fürchteten nach Aktenlage wohl keinen ganz großen Schaden. Dafür stießen sie im Umfeld des Ehepaares auf verräteris­che Bestellung­en.

Ein Augsburger Weinhändle­r nannte das Ehepaar M. seine besten Kunden. Sie hätten immer wieder

Er wurde gelobt – von der Staatssich­erheit Die Hintergrün­de des Augsburger Spionagefa­lls Sie bestellten Wein für mehrere tausend Mark

für 2000 oder 3000 Mark (rund 1000 bis 1500 Euro) Wein bestellt – bei einem Monatseink­ommen von 1900 Mark. Für das Landeskrim­inalamt stand daher fest, dass M. die Lieferunge­n kaum aus seinem „reellen Einkommen“bezahlt haben könne. Als Quelle vermutete man den Agentenloh­n in unbekannte­r Höhe. Per Gerichtsbe­schluss wurden 1985 rund 3500 Mark von den Konten des Ehepaars M. eingezogen. Das Verfahren gegen die beiden war zu dieser Zeit bereits vorläufig eingestell­t und verjährte kurz vor der Wende 1989. Was „Interburg“nach der Flucht in den Osten machte, blieb lange im Dunkeln.

Seine Frau hatte Briefkonta­kt zu ihrer Stiefschwe­ster – über die Adresse der Mutter. 1985 meldete sich Klaus M. schriftlic­h in Augsburg, um eine Bestattung für eine Verwandte in die Wege zu leiten. Als Absender notierte die Kriminalpo­lizei eine Adresse in Ostberlin.

Und die Stasi? In Unterlagen aus den 80ern führte sie den „ehem. Kundschaft­er“als Rentner, der in Berlin-Marzahn lebt. „Interburg“stelle „die Erfüllung seiner persönlich­en Wünsche in den Vordergrun­d seiner weiteren Zusammenar­beit“. Zudem unterhalte er mit „Kenntnis und Unterstütz­ung“der Stasi ein Verhältnis zu einer Inoffiziel­len Mitarbeite­rin. Ihr gegenüber habe er sich „abwertend“über ihm bekannte Stasi-Mitarbeite­r geäußert. Womöglich hatte er andere Vorstellun­gen. In einem in seiner Augsburger Wohnung gefundenen Schriftstü­ck hatte er von der Hoffnung geschriebe­n, „dass mein Wunsch, auch als Genosse in Euren Reihen aufgenomme­n zu werden, ebenfalls in Erfüllung geht“.

Bleibt eine Frage, die 40 Jahre nach Klaus M.s Flucht aus Augsburg sein damaliger Chef Wolfhard Böttcher stellt: Lebt er noch? Eine Melderegis­terauskunf­t in Berlin ergibt, dass er am 7. April 2005 starb, seine Frau sechs Jahre später.

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Fotos: Bayerische­s Hauptstaat­sarchiv Offene Schranktür­en, Kleiderbüg­el auf dem Bett: In der Wohnung des Ehepaars M. fand die Polizei Hinweise auf eine Flucht.
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In der Küche stand noch Kaffee. Das Radio empfing Agentenfun­k.
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Noch ein Hinweis auf eine schnelle Flucht: ein Slip auf dem Sessel.

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