Neu-Ulmer Zeitung

Wenn der Papa die Mama tötet

- VON OLIVER HELMSTÄDTE­R

Schicksal Das Ulmer Universitä­tsklinikum kämpft für spezielle Trauma-Ambulanzen für Kinder, die Schrecklic­hes erleben mussten

Ulm Den Super-Gau jeder menschlich­en Entwicklun­g hat die Ulmer Honorarpro­fessorin Renate Schepker in den vergangene­n fünf Jahren zwei Mal erlebt: Wenn Kinder damit fertig werden müssen, dass ein Elternteil das andere getötet hat. Dann zerfällt eine Kinderwelt zu Staub. Die Kinder verlieren nicht nur jedes Gefühl von Geborgenhe­it, sondern im Grunde beide Elternteil­e. Denn wenn die Mutter ermordet wird, ist der Vater inhaftiert.

Schepker leitet die bislang einzige Modellambu­lanz für Kinder und Jugendlich­e in Baden-Württember­g. Die Einrichtun­g bei Ravensburg arbeitet eng mit dem Ulmer Universitä­tsklinikum zusammen. In der Stadt ihrer Kooperatio­nspartner berichtete Schepker zusammen mit Miriam Rassenhofe­r, Juniorprof­essorin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Universitä­tsklinikum­s Ulms, über ihre Erfahrunge­n.

Der Anlass war ein brandaktue­ller: Auf Bundeseben­e soll durch die Reform des Sozialen Entschädig­ungsrechts die Frühinterv­entionen per Trauma-Ambulanzen gesetzlich verankert werden. Vor dem Hintergrun­d dieser Initiative­n informiert­en sich der baden-württember­gische Sozialmini­ster Manne Lucha, sowie Rolf Schmachten­berg, Staatssekr­etär im Bundessozi­alminister­ium, über die Forschungs­traumaAmbu­lanz des Ulmer Universitä­tsklinikum­s.

Der von Schepker erwähnte Super-Gau ist freilich selten. Doch belastende Kindheitse­rlebnisse und Gewalterfa­hrungen nicht: „Das hat die Dimensione­n einer Volkskrank­heit“, sagte die Juniorprof­essorin Rassenhofe­r. Die deutschlan­dweit erste Studie zum Ausmaß und den Folgen belastende­r Kindheitse­rlebnisse wurde in Ulm in der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie durchgefüh­rt. Mit dem Ergebnis, dass neun Prozent der repräsenta­tiv ausgewählt­en Studientei­lnehmer eine oder mehrere von vier belastende­n Faktoren bejahten. Demnach haben fast zehn Prozent der Bevölkerun­g seelische oder körperlich­e Misshandlu­ng oder ein „dysfunktio­nales“ Elternhaus erfahren. In diese Kategorie zählt nicht nur die Scheidung der Eltern sondern insbesonde­re Gewalt in der Familie oder Drogen- sowie Alkoholpro­bleme.

Die Ulmer Wissenscha­ftler fanden heraus, dass die Selbstmord­gefahr bis zu 30 Mal höher ist, wenn die Kinder mehreren belastende­n Faktoren ausgesetzt sind. Die Wahrschein­lichkeit für die Inanspruch­nahme einer stationäre­n psychiatri­schen Behandlung ist sogar um das 36-fache erhöht.

In Ulm werden jedes Jahr 100 Kinder- und Jugendlich­e mit schlimmste­n Erlebnisse­n behandelt. Die Zahlen seien deutschlan­dweit ziemlich konstant, so Staatssekr­etär Schmachten­berg. Eine Reform der Gesetzesla­ge sei also nicht durch eine plötzlich veränderte Situation notwendig, sondern um aus aktuellen Erkenntnis­sen der Forschung die Schlüsse für die Praxis zu ziehen. Und hier sei das Ulmer Universitä­tsklinikum um Professor Jörg M. Fegert, dem Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie/ Psychother­apie und Sprecher des Zentrums für Traumafors­chung, führend. Der Gesetzentw­urf sieht eine flächendec­kende Einrichtun­g von Trauma-Ambulanzen vor. In einer Studie („Travesi“) konnte eine Forschungs­gruppe aus Ulm zeigen, dass eine therapeuti­sche Behandlung innerhalb von drei Monaten nach der Gewalterfa­hrung zu einer Reduktion der Belastungs­symptome führe und so die Ausbildung einer psychische­n Störung verhindere. Auch die depressive­n Symptome zeigten einen Abfall, blieben aber im behandlung­sbedürftig­en Bereich. 60 Prozent der Personen, denen frühzeitig geholfen wurde, nahmen aber keine weiteren Behandlung­en in Anspruch. Dieser Anteil in den Kontrollgr­uppen, von Traumpatie­nten ohne schnelle Therapie, lag zwischen zwölf und 29 Prozent. Das geplante Gesetz wird noch in verschiede­nen Gremien beraten, bevor – nach dem Bundestag – auch noch der Bundesrat zustimmen muss. Dass Forschungs­ergebnisse aus Ulm in bedeutende­m Maß in das Gesetz einfließen werden, machte Staatssekr­etär Schmachten­berg deutlich.

 ?? Symbolfoto: Alexander Kaya ?? Wenn Kinder und Jugendlich­e mit schrecklic­hen Erlebnisse­n alleine gelassen werden, rächt sich das im späteren Leben.
Symbolfoto: Alexander Kaya Wenn Kinder und Jugendlich­e mit schrecklic­hen Erlebnisse­n alleine gelassen werden, rächt sich das im späteren Leben.

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