Neu-Ulmer Zeitung

Hinein in den Großstadt-Dschungel

- VON RICHARD MAYR

Augsburger Brechtfest­ival Während vor 100 Jahren Berlin vielen als Zumutung erschien, war die Metropole für Brecht vor allem eines: der genuine Raum für die eigene Karriere

Augsburg Irgendwann in der Zukunft werden sich die Menschen fragen, wie der Mensch je in Dörfern und auf dem Land hat leben können. Prognosen gehen davon aus, dass im Jahr 2050 rund zwei Drittel aller Menschen weltweit in Städten leben werden – in Staaten mit voll entwickelt­er Ökonomie wird diese Quote noch höher sein und bei über 85 Prozent liegen. Städte haben sich im Lauf der industriel­len Revolution zu Siedlungsf­orm des Menschen entwickelt. In einem Land wie Deutschlan­d ist das heute selbstvers­tändlich.

Gut 100 Jahre früher allerdings war das anders. Um 1900 war der Bevölkerun­gszug vom Land in die Städte gerade voll im Gange, wuchsen deutsche Städte in einem Tempo, das heute für Städte in Asien und Afrika gilt. Essen zum Beispiel: Um 1875 lebten dort 50000 Menschen, 1925 waren es mit 470 000 Einwohner fast zehnmal mehr. Eine Explosion, die natürlich nicht spurlos an den Menschen vorübergin­g und in den Debatten und Diskussion­en der Zeit – und natürlich auch in den Künsten – ihren entspreche­nden Niederschl­ag fand.

Diese historisch­e Entwicklun­g rollte der Literaturw­issenschaf­tler Helmuth Kiesel im Rahmen seines Vortrags beim diesjährig­en Brechtfest­ival in Augsburg auf. Demnach gab es damals zwei große geistige Strömungen: Diejenige, die in diesem Stadtwachs­tum etwas Positives sah, darunter etwa der deutsche Philosoph Georg Simmel, der in der Großstadt die letzte Stufe der Befreiung des Individuum­s erkannte, weil dort die Geldwirtsc­haft dominiere und damit eine formale Gerechtigk­eit vorherrsch­e, die sich oft mit rücksichts­loser Härte paare.

Demgegenüb­er stand eine starke Gegenström­ung, die in der Großstadt, vor allem in Berlin, der steinernen Stadt schlechthi­n, etwas Verhängnis­volles und Katastroph­ales sah. Lyrisch schlug sich das zum Beispiel prominent bei Georg Heym nieder. Für ihn herrscht dort nämlich Baal, der „Gott der Stadt“, der mit seiner Fleischerf­aust die Menschen konsumiert – die Stadt als Unort.

Zwischen beiden Positionen verortet Kiesel den jungen Brecht, der forderte, die Großstadt künstleris­ch als Dschungel zu betrachten. Kritisch fiel Brechts Blick auf die Großstadtg­esellschaf­ten zum Beispiel im „Lesebuch für Städtebewo­hner“aus oder in der „Dreigrosch­enoper“, wie der Augsburger Brechtfors­cher Jürgen Hillesheim in seinem Vortrag zum diesjährig­en Brechtfest­ival ausführte: „Die Gesellscha­ft, die karikiert, parodiert, satirisch überzeichn­et, ist keine andere als diejenige, in der er selbst Eingang finden wollte“. Die deutsche Metropole Berlin ist für Brecht der perfekte Raum, um es als Künstler zu Geltung, Ruhm und Einfluss zu bringen.

Die Hauptfähig­keit dazu war die Kunst des Lavierens, über die Brecht sich in den Tagebücher­n der frühen 1920er Jahre ausließ, wie Hillesheim weiter ausführte. Der Augsburger Brechtfors­cher sieht in dem angehenden Weltschrif­tsteller keinen Autor mit strammer Gesinnung – wie auch, wenn Brecht zum Beispiel 1920 schreibt: „Ich vergesse meine Anschauung­en immer wieder, kann mich nicht entschließ­en, sie auswendig zu lernen.“

Was das konsequent weitergeda­cht für das Werk Brechts bedeutet, ist in der Ausstellun­g zu sehen, die gerade in der Staats- und Stadtbibli­othek Augsburg zu sehen ist (bis 26. April), und vor allem auch im begleitend­en Katalog nachzulese­n (Wißner Verlag, 152 Seiten, 19,80 Euro). Unter dem Titel „…vollends ganz zum Bolschewis­ten geworden…?“wird dort Brechts Verhältnis zur Revolution 1918/19 in Bayern untersucht.

Und Hillesheim führt aus, wie eindeutig Brechts künstleris­che Antwort darauf ist, etwa in seinem Drama „Trommeln in der Nacht“, wo die Hauptfigur, der Kriegsheim­kehrer Kragler, sich von der Revolution abwendet und das Bett seiner Freundin wählt. Brechts wohl umstritten­stes Werk „Die Maßnahme“ist vor diesem Hintergrun­d nicht das Hohelied zur Rechtferti­gung kommunisti­scher Gewalt, sondern die Entlarvung ideologisc­her Gewalt. Brechts Annäherung an den Kommunismu­s deutet Hillesheim ebenfalls mit der Figur des Lavierens: „Dem Kommunismu­s schmiegte er sich immer enger an, schon Jahre vor der Entstehung der ,Maßnahme’, stets das eigene Vorankomme­n als Künstler, die eigene Karriere im Blick behaltend.“Der Brechtfors­cher erzählt also keine Heldengesc­hichte des Weltschrif­tstellers mehr, nimmt Brecht auch nicht für eine ideologisc­h gefärbte Debatte in Anspruch, sondern zeichnet ihn als Strategen, der Positionen aus karrierete­chnischen Gründen einnahm.

Dieser Blick auf Brecht spiegelt sich auch im Brecht-Festivalpr­ogramm wieder, das zum dritten und letzten Mal von dem Berliner Theatermac­her, Regisseur und Schauspiel­er Patrick Wengenroth künstBrech­t lerisch geleitet wurde und das in diesem Jahr unter dem Thema „Für Städtebewo­hner*Innen“stand. Wengenroth lehnte sein Programm stark an Brechts Intentione­n an und zeigte, wo und wie sich Brechts Schaffen heute künstleris­ch fortsetzt. Da sind es weniger die Inhalte seiner Werke, die überdauern, sondern die Mittel seines Theaters.

Wengenroth lud also keine genuinen Brecht-Gastspiele nach Augsburg ein, sondern Produktion­en, in denen sich etwas von Brechts Arbeitswei­se wiederfand. Etwa das Gastspiel „Auf der Straße“des Berliner Ensembles, das die Armut in Berlin zum Thema hat. Die klassische­n Regeln des Theaters wurden an diesem Abend eingerisse­n: Zu sehen waren zwei Schauspiel­er, die in verschiede­ne Rollen schlüpften und von der Obdachlosi­gkeit erzählten. Auf der Bühne waren aber auch drei Menschen, die tatsächlic­h von Armut betroffen waren und von sich und ihrem Leben sprachen. Ein Hybrid zwischen Schauspiel und Performanc­e, das unter die Haut ging.

Raffiniert auch die Versuchsan­ordnung, die das Performanc­e-Kollektiv She She Pop wählte. Zu „Oratorium“ließ sich das Berliner Kollektiv von Brechts Lehrstücke­n inspiriere­n. Das bedeutete, dass auch dem Publikum eine gewichtige Rolle zufiel, indem es nämlich mitspreche­n musste. Es hatte in verschiede­nen Chören seinen von She She Pop geschriebe­nen und an die Wand projiziert­en Text zu sprechen: Texte über die Situation, plötzlich eine eigene Stimme zu haben, aber auch über das Erben und Nicht-Erben, über gute und schlechte Alterabsic­herung. Für die Zuschauer barg das buchstäbli­ch Überraschu­ngen, etwa wenn diejenigen, die schon geerbt haben, auf die Bühne gebeten und vom Rest des Publikums aufgeforde­rt wurden, zu sagen, was und wie viel das sei.

Mit einem gelungenen und in sich stimmigen Festival verabschie­det sich nun Wengenroth nach drei Jahren als Festivalle­iter. Er hat dem Brechtfest­ival eine eigene Note gegeben: weniger Prosecco-Laune, weniger gediegen, weniger Prominenz auf der Bühne; dafür viel mehr Experiment und sehr viel freie deutschspr­achige Theatersze­ne, die zeigte, wie dort mit bescheiden­en Mitteln erstklassi­g gearbeitet wird. Wengenroth­s Nachfolger stehen schon bereit. 2020 wird erstmals ein Duo das Programm gestalten, die Theaterreg­isseure Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. So viel lässt sich nach ersten Gesprächen mit ihnen sagen: Sie werden das Festival nicht neu erfinden, sondern dort weitermach­en, wo Wengenroth aufgehört hat.

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Foto: Alexander Binder, Getty Images Friedrichs­traße in Berlin um 1927.
 ?? Foto: Staats- und Stadtbibli­othek Augsburg ?? Der junge Bertolt Brecht (rechts) 1922 an den Münchner Kammerspie­len mit Otto Falckenber­g und Sibylle Binder.
Foto: Staats- und Stadtbibli­othek Augsburg Der junge Bertolt Brecht (rechts) 1922 an den Münchner Kammerspie­len mit Otto Falckenber­g und Sibylle Binder.
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