Neu-Ulmer Zeitung

Auch Sokrates kann irren

- VON ERICH PAWLU

Die Jugend hat heutzutage schlechte Manieren. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprec­hen ihren Eltern, verschling­en bei Tisch die Süßspeisen und tyrannisie­ren ihre Lehrer.“Diese Klage des Philosophe­n Sokrates wird im Internet ständig angeklickt. Offenbar gilt als aktuell, was vor 2500 Jahren in die Welt gesetzt wurde.

In Wirklichke­it hat sich viel verändert. Moderne Jugendlich­e stehen sofort auf, wenn Ältere ihr Zimmer betreten. Sie gehen nämlich in den nächsten Raum, wo sie ungestört ihr Smartphone weiterstre­icheln können. Sie widersprec­hen nur noch selten ihren Eltern, weil sie nicht reden, sondern stumm ihre Instagram-Kontakte pflegen wollen. Mutters Süßspeisen lassen sie stehen, sie bevorzugen Fast Food. Und die Kritik an der Tyrannisie­rung der Lehrer ist längst unzeitgemä­ß, weil der renitente Schüler von heute als erfolgreic­hes Produkt der Freiheit gefeiert wird.

Viel mehr Sorgen bereitet inzwischen die Leseschwäc­he junger Leute. Heute würde Sokrates wahrschein­lich vorschlage­n, die Schulen nicht mit Tablets auszurüste­n, sondern auf bewährte Methoden zurückzugr­eifen, an die sich auch der Schriftste­ller Karl Immermann erinnert, wenn er im „Münchhause­n“-Buch an seinen alten Lehrer denkt: „Er versah seinen Dienst ohne Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier [...] und brachte die fähigsten Köpfe nicht selten soweit, daß sie Gedrucktes ohne sonderlich­e Anstrengun­g lesen lernten.“

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