Auch Sokrates kann irren
Die Jugend hat heutzutage schlechte Manieren. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen und tyrannisieren ihre Lehrer.“Diese Klage des Philosophen Sokrates wird im Internet ständig angeklickt. Offenbar gilt als aktuell, was vor 2500 Jahren in die Welt gesetzt wurde.
In Wirklichkeit hat sich viel verändert. Moderne Jugendliche stehen sofort auf, wenn Ältere ihr Zimmer betreten. Sie gehen nämlich in den nächsten Raum, wo sie ungestört ihr Smartphone weiterstreicheln können. Sie widersprechen nur noch selten ihren Eltern, weil sie nicht reden, sondern stumm ihre Instagram-Kontakte pflegen wollen. Mutters Süßspeisen lassen sie stehen, sie bevorzugen Fast Food. Und die Kritik an der Tyrannisierung der Lehrer ist längst unzeitgemäß, weil der renitente Schüler von heute als erfolgreiches Produkt der Freiheit gefeiert wird.
Viel mehr Sorgen bereitet inzwischen die Leseschwäche junger Leute. Heute würde Sokrates wahrscheinlich vorschlagen, die Schulen nicht mit Tablets auszurüsten, sondern auf bewährte Methoden zurückzugreifen, an die sich auch der Schriftsteller Karl Immermann erinnert, wenn er im „Münchhausen“-Buch an seinen alten Lehrer denkt: „Er versah seinen Dienst ohne Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier [...] und brachte die fähigsten Köpfe nicht selten soweit, daß sie Gedrucktes ohne sonderliche Anstrengung lesen lernten.“