Neu-Ulmer Zeitung

Freiheit auf vier Rädern

- VON SEBASTIAN MAYR

Mobilität Nicole Danz hat eine spastische Lähmung. Seit August hat sie ihren Führersche­in – und fährt seitdem fast jeden Tag Auto. Ein „Riesenschr­itt“, sagt die Ulmerin. Sie ist es gewohnt, für ihre Ziele zu kämpfen

Ulm Als Nicole Danz das erste Mal allein zu ihren Eltern gefahren war, konnten die es gar nicht glauben. Eineinvier­tel Stunden von Ulm nach Schwäbisch Gmünd, mit dem Auto über die Alb. Ihr Vater rief auf der Festnetznu­mmer seiner Tochter in Ulm an – um sicherzuge­hen, dass deren Mann wirklich zu Hause war und sie nicht doch chauffiert hatte. Nicole Danz, 41 Jahre alt, hat eine spastische Lähmung. Ihre Hände hält sie verkrampft, die Finger zeigen zum Körper, die Knie stehen eng beieinande­r. Längere Strecken legt Danz mit dem Rollstuhl zurück. Oder mit dem Auto. Im August hat sie den Führersche­in gemacht, die praktische Prüfung hat sie gleich im ersten Anlauf bestanden. Nur die Theorieprü­fung musste Danz zweimal machen. Jetzt sitzt sie fast jeden Tag im Auto. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Musical nach Stuttgart oder eben zu ihren Eltern.

Nicole Danz grinst, als sie die Geschichte von der Fahrt nach Schwäbisch Gmünd erzählt. Es sei nicht so, dass ihre Eltern ihr das Autofahren nicht zutrauen würden. Sie seien einfach nur überrascht gewesen, dass sie die Strecke gleich ganz allein gefahren war. Danz legt Wert darauf, das zu betonen. Die 41-Jährige ist ihren Eltern dankbar, dass sie mit ihr gekämpft haben: Dass ihre Behinderun­g überhaupt diagnostiz­iert wurde. Dass sie auf ein passendes Internat ging. „Ich bin ein Familienme­nsch“, sagt die Ulmerin, die in Sachsen-Anhalt zur Welt gekommen ist. „Für mich spielt das Umfeld eine sehr große Rolle.“Die Familie, ihr Mann, ihre Freunde und die Therapeute­n sind für sie wichtig. Genauso wie ihr Fahrlehrer.

Nicole Danz will zur Gesellscha­ft gehören, so wie jeder andere. Sie will selbststän­dig leben. Ihr Führersche­in, sagt sie, sei ein Riesenschr­itt gewesen. Vorher hatte sie sich von ihrem Mann überall hinfahren lassen. Jetzt ist sie allein unterwegs, immer, wenn sie Lust hat. Dass sie erst so spät mit der Fahrausbil­dung begann, lag auch am Geld: Danz war zeitweise arbeitslos, wegen ihres Handicaps fand sie keine Stelle. Und es lag daran, dass Danz die Möglichkei­t schlicht nicht auf dem Schirm hatte. Erst ein Freund brachte sie auf die Idee. Als sie mit den Fahrstunde­n begann, war die 41-Jährige noch skeptisch. Konnte das klappen? „Es war der Kopf. Der Respekt davor, diesen Schritt zu wagen“, erinnert sie sich. Sie habe sich erst nicht getraut, auf der Autobahn oder der Landstraße schnell zu fah-

Und: „Kreisverke­hre waren eine der schwierigs­ten Aufgaben. Da haben wir geübt und geübt.“Das Kurvenfahr­en fiel ihr schwer.

Ein Neurologe hat Bedingunge­n festgelegt, an die sie sich halten muss: Nicole Danz darf nur Fahrzeuge mit Automatik-Getriebe, Servolenku­ng und Bremskraft­verstärker sowie ohne Anhänger lenken. „Damit kann ich leben“, sagt die 41-Jährige. Der Weg zum Gutachten war steinig. Dem ersten Arzt war es zu heikel, sich festzulege­n. Er wollte nicht verantwort­lich sein,

es doch zu einem Unfall kommen sollte. Am Ende vermittelt­e Fahrlehrer Wolfgang Fritz den Kontakt zu einem Mediziner, der sie untersucht­e.

Fritz ist einer von wenigen im weiten Umkreis, der Menschen mit Behinderun­g das Autofahren beibringt. Ein Kollege aus der gleichen Fahrschule will demnächst ebenfalls einsteigen. Die Nachfrage ist da: An die 50 Schüler mit Handicap besuchen jedes Jahr „Wolfgang’s Fahrschule“, die drei Niederlass­ungen in Ulm und Neenstette­n im Alb-Doren.

nau-Kreis hat. Der Betrieb hat, was sonst fast keiner anbieten kann: ein umgerüstet­es Fahrschula­uto.

Manche Schüler lernen neu, andere werden umgeschult – etwa, weil sie nach einem Arbeitsunf­all querschnit­tsgelähmt sind. Eine spezielle Ausbildung für HandicapFa­hrlehrer gibt es nicht. Wolfgang Fritz hat als Angestellt­er gelernt, worauf es dabei ankommt. Später ließ er sich weiterbild­en. Im kommenden Jahr will Fritz, der sich 2012 selbststän­dig gemacht hat, an einem dreitägige­n Seminar am Verwenn kehrs-Institut Bielefeld teilnehmen, das sich um das Thema dreht.

Im weißen Audi A6 von „Wolfgang’s Fahrschule“können die Pedale mit Blenden überdeckt werden – für Leute, die mit den Händen Gas geben und bremsen. Dafür gibt es einen Multifunkt­ionsknopf, den der Fahrlehrer am Lenkrad anbringen kann. Fritz hat auch eine Vorrichtun­g, mit der das Gaspedal so verlegt wird, dass ein Fahrer es mit dem linken Fuß betätigen kann. Und er hat einen sogenannte­n Gasring, den seine Fahrschüle­r mit beiden Händen betätigen. Doch das kann komplizier­t sein. Denn der weite Spielraum, der beim Gasgeben über Pedal oder Multifunkt­ionsknopf besteht, ist beim Gasring auf eineinhalb Zentimeter gestaucht. Ein PSstarker Wagen wie der Audi A6 schießt trotz eingebaute­r Kraftreduz­ierung los, wenn sein Fahrer ein wenig zu fest auf den Ring am Lenkrad drückt.

Wolfgang Fritz verlangt für die Handicap-Fahrstunde­n nicht mehr als für andere. „Ich könnte damit

Ein Arzt hat Bedingunge­n fürs Fahren festgelegt Nicht nur gute Erfahrunge­n mit der Gesellscha­ft

mehr Geld machen, aber das will ich nicht“, sagt er. „Ich bin sehr sozial eingestell­t“, sagt er und erzählt von der Freude der Fahrschüle­r mit Handicap, wenn sie den Führersche­in in den Händen halten. „Das ist ein ganz tolles Gefühl. Die Leute sind unendlich dankbar, wenn sie mobil sind“, sagt Fritz. Seine Stimme klingt eindringli­cher als sonst.

Nicole Danz ist von ihrem Fahrlehrer begeistert. „Er macht nicht nur Unterricht, er steht dir zur Seite“, sagt sie. Und dann ist da noch etwas: „Er behandelt alle gleich.“Eine Erfahrung, die die 41-Jährige nicht überall macht. Die Gesellscha­ft sei in Deutschlan­d nicht so weit wie in anderen Ländern. Bei einem Urlaub auf Mallorca habe man ihr ein Hotelzimme­r gleich beim Aufzug gegeben und ihr ohne viel Aufhebens Wege ohne Treppenstu­fen gezeigt. In Deutschlan­d hat Nicole Danz dagegen schon anderes erlebt. Ein Berufsbera­ter hat ihr nach der Schule vorgeschla­gen, als Küchenhilf­e zu arbeiten. „Ich habe auf meine Hände geschaut und ihn gefragt: Wie soll ich Kartoffeln schälen?“, erinnert sich Danz. Dass sie den Führersche­in gemacht hat, können viele nicht glauben: „Wenn ich aus dem Auto steige, fallen manchen Leuten die Augen raus.“

Ihr Auto, einen roten Renault Clio, kauften Nicole Danz und ihr Mann gebraucht in München, da liefen die Fahrstunde­n noch. Ein Automatik-Wagen, ganz ohne Umbauten. Nicole Danz braucht am Steuer keine Hilfestell­ung.

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Foto: Alexander Kaya Fahrlehrer Wolfgang Fritz und Nicole Danz mit dem weißen Audi A 6, in dem die Ulmerin im vergangene­n Jahr das Autofahren gelernt hat.

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