Freiheit auf vier Rädern
Mobilität Nicole Danz hat eine spastische Lähmung. Seit August hat sie ihren Führerschein – und fährt seitdem fast jeden Tag Auto. Ein „Riesenschritt“, sagt die Ulmerin. Sie ist es gewohnt, für ihre Ziele zu kämpfen
Ulm Als Nicole Danz das erste Mal allein zu ihren Eltern gefahren war, konnten die es gar nicht glauben. Eineinviertel Stunden von Ulm nach Schwäbisch Gmünd, mit dem Auto über die Alb. Ihr Vater rief auf der Festnetznummer seiner Tochter in Ulm an – um sicherzugehen, dass deren Mann wirklich zu Hause war und sie nicht doch chauffiert hatte. Nicole Danz, 41 Jahre alt, hat eine spastische Lähmung. Ihre Hände hält sie verkrampft, die Finger zeigen zum Körper, die Knie stehen eng beieinander. Längere Strecken legt Danz mit dem Rollstuhl zurück. Oder mit dem Auto. Im August hat sie den Führerschein gemacht, die praktische Prüfung hat sie gleich im ersten Anlauf bestanden. Nur die Theorieprüfung musste Danz zweimal machen. Jetzt sitzt sie fast jeden Tag im Auto. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Musical nach Stuttgart oder eben zu ihren Eltern.
Nicole Danz grinst, als sie die Geschichte von der Fahrt nach Schwäbisch Gmünd erzählt. Es sei nicht so, dass ihre Eltern ihr das Autofahren nicht zutrauen würden. Sie seien einfach nur überrascht gewesen, dass sie die Strecke gleich ganz allein gefahren war. Danz legt Wert darauf, das zu betonen. Die 41-Jährige ist ihren Eltern dankbar, dass sie mit ihr gekämpft haben: Dass ihre Behinderung überhaupt diagnostiziert wurde. Dass sie auf ein passendes Internat ging. „Ich bin ein Familienmensch“, sagt die Ulmerin, die in Sachsen-Anhalt zur Welt gekommen ist. „Für mich spielt das Umfeld eine sehr große Rolle.“Die Familie, ihr Mann, ihre Freunde und die Therapeuten sind für sie wichtig. Genauso wie ihr Fahrlehrer.
Nicole Danz will zur Gesellschaft gehören, so wie jeder andere. Sie will selbstständig leben. Ihr Führerschein, sagt sie, sei ein Riesenschritt gewesen. Vorher hatte sie sich von ihrem Mann überall hinfahren lassen. Jetzt ist sie allein unterwegs, immer, wenn sie Lust hat. Dass sie erst so spät mit der Fahrausbildung begann, lag auch am Geld: Danz war zeitweise arbeitslos, wegen ihres Handicaps fand sie keine Stelle. Und es lag daran, dass Danz die Möglichkeit schlicht nicht auf dem Schirm hatte. Erst ein Freund brachte sie auf die Idee. Als sie mit den Fahrstunden begann, war die 41-Jährige noch skeptisch. Konnte das klappen? „Es war der Kopf. Der Respekt davor, diesen Schritt zu wagen“, erinnert sie sich. Sie habe sich erst nicht getraut, auf der Autobahn oder der Landstraße schnell zu fah-
Und: „Kreisverkehre waren eine der schwierigsten Aufgaben. Da haben wir geübt und geübt.“Das Kurvenfahren fiel ihr schwer.
Ein Neurologe hat Bedingungen festgelegt, an die sie sich halten muss: Nicole Danz darf nur Fahrzeuge mit Automatik-Getriebe, Servolenkung und Bremskraftverstärker sowie ohne Anhänger lenken. „Damit kann ich leben“, sagt die 41-Jährige. Der Weg zum Gutachten war steinig. Dem ersten Arzt war es zu heikel, sich festzulegen. Er wollte nicht verantwortlich sein,
es doch zu einem Unfall kommen sollte. Am Ende vermittelte Fahrlehrer Wolfgang Fritz den Kontakt zu einem Mediziner, der sie untersuchte.
Fritz ist einer von wenigen im weiten Umkreis, der Menschen mit Behinderung das Autofahren beibringt. Ein Kollege aus der gleichen Fahrschule will demnächst ebenfalls einsteigen. Die Nachfrage ist da: An die 50 Schüler mit Handicap besuchen jedes Jahr „Wolfgang’s Fahrschule“, die drei Niederlassungen in Ulm und Neenstetten im Alb-Doren.
nau-Kreis hat. Der Betrieb hat, was sonst fast keiner anbieten kann: ein umgerüstetes Fahrschulauto.
Manche Schüler lernen neu, andere werden umgeschult – etwa, weil sie nach einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt sind. Eine spezielle Ausbildung für HandicapFahrlehrer gibt es nicht. Wolfgang Fritz hat als Angestellter gelernt, worauf es dabei ankommt. Später ließ er sich weiterbilden. Im kommenden Jahr will Fritz, der sich 2012 selbstständig gemacht hat, an einem dreitägigen Seminar am Verwenn kehrs-Institut Bielefeld teilnehmen, das sich um das Thema dreht.
Im weißen Audi A6 von „Wolfgang’s Fahrschule“können die Pedale mit Blenden überdeckt werden – für Leute, die mit den Händen Gas geben und bremsen. Dafür gibt es einen Multifunktionsknopf, den der Fahrlehrer am Lenkrad anbringen kann. Fritz hat auch eine Vorrichtung, mit der das Gaspedal so verlegt wird, dass ein Fahrer es mit dem linken Fuß betätigen kann. Und er hat einen sogenannten Gasring, den seine Fahrschüler mit beiden Händen betätigen. Doch das kann kompliziert sein. Denn der weite Spielraum, der beim Gasgeben über Pedal oder Multifunktionsknopf besteht, ist beim Gasring auf eineinhalb Zentimeter gestaucht. Ein PSstarker Wagen wie der Audi A6 schießt trotz eingebauter Kraftreduzierung los, wenn sein Fahrer ein wenig zu fest auf den Ring am Lenkrad drückt.
Wolfgang Fritz verlangt für die Handicap-Fahrstunden nicht mehr als für andere. „Ich könnte damit
Ein Arzt hat Bedingungen fürs Fahren festgelegt Nicht nur gute Erfahrungen mit der Gesellschaft
mehr Geld machen, aber das will ich nicht“, sagt er. „Ich bin sehr sozial eingestellt“, sagt er und erzählt von der Freude der Fahrschüler mit Handicap, wenn sie den Führerschein in den Händen halten. „Das ist ein ganz tolles Gefühl. Die Leute sind unendlich dankbar, wenn sie mobil sind“, sagt Fritz. Seine Stimme klingt eindringlicher als sonst.
Nicole Danz ist von ihrem Fahrlehrer begeistert. „Er macht nicht nur Unterricht, er steht dir zur Seite“, sagt sie. Und dann ist da noch etwas: „Er behandelt alle gleich.“Eine Erfahrung, die die 41-Jährige nicht überall macht. Die Gesellschaft sei in Deutschland nicht so weit wie in anderen Ländern. Bei einem Urlaub auf Mallorca habe man ihr ein Hotelzimmer gleich beim Aufzug gegeben und ihr ohne viel Aufhebens Wege ohne Treppenstufen gezeigt. In Deutschland hat Nicole Danz dagegen schon anderes erlebt. Ein Berufsberater hat ihr nach der Schule vorgeschlagen, als Küchenhilfe zu arbeiten. „Ich habe auf meine Hände geschaut und ihn gefragt: Wie soll ich Kartoffeln schälen?“, erinnert sich Danz. Dass sie den Führerschein gemacht hat, können viele nicht glauben: „Wenn ich aus dem Auto steige, fallen manchen Leuten die Augen raus.“
Ihr Auto, einen roten Renault Clio, kauften Nicole Danz und ihr Mann gebraucht in München, da liefen die Fahrstunden noch. Ein Automatik-Wagen, ganz ohne Umbauten. Nicole Danz braucht am Steuer keine Hilfestellung.