Neu-Ulmer Zeitung

Suizide: Eine Illertisse­rin erforscht ein Tabu-Thema

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Interview Nathalie Oexle ist Juniorprof­essorin am Bezirkskra­nkenhaus in Günzburg. Sie widmet sich der sogenannte­n Lebensmüdi­gkeit

Illertisse­n/Ulm Nathalie Oexle aus Illertisse­n ist Juniorprof­essorin – als einzige im Bezirkskra­nkenhaus (BKH) Günzburg. Wir haben mit der 31-Jährigen darüber gesprochen, warum sie die sozialpsyc­hiatrische Forschung so fasziniere­nd findet. Und sie erzählt, wie sie Menschen mit Selbstmord­gedanken helfen will.

Frau Oexle, wie wird man Juniorprof­essorin?

Dr. Nathalie Oexle: Eine gute Frage. Ich hatte das Glück, dass die Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie II der Universitä­t Ulm – eine Abteilung des BKH Günzburg – eine Stelle für eine Professur für Sozialpsyc­hiatrie ausgeschri­eben hat. Inhaltlich hat das gut gepasst, da ich schon vor und während meiner Promotion in diesem Themengebi­et geforscht hatte. Ich konnte meine Dissertati­on abschließe­n und wurde dann von der Uni berufen. Das habe ich freudig und dankend angenommen.

Was reizt Sie so am weiten Feld der Forschung über psychische Erkrankung­en?

Oexle: Ich bin ein Stück weit idealistis­ch. Ich habe den Eindruck, dass manche Menschen in unserer Gesellscha­ft abgehängt und ausgegrenz­t werden. Das finde ich nicht fair. Mir geht es vor allem um Menschen, die eine psychische Erkrankung haben, Menschen, die Suizidalit­ät erleben oder erlebt haben und auch deren Angehörige. Diese Personengr­uppen haben ein erhöhtes Risiko für Suizid. Und die Stigmatisi­erung, die sie erleben, trägt zu diesem Risiko bei. Durch die For-

Dr. Nathalie Oexle und seit August 2018 Juniorprof­essorin an der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie der Uni Ulm am Be-

ist 31 Jahre alt

schung will ich versuchen, Missstände und Vorurteile abzubauen – und so einen Beitrag zur Suizidpräv­ention leisten.

Warum beschäftig­t sich eine junge Frau so intensiv mit Suizidalit­ät? Oexle: Ich möchte ein paar Zahlen nennen: In Deutschlan­d gibt es pro Jahr etwa 10000 Suizide. Die Dunkelziff­er wird auf etwa 25 Prozent geschätzt. Hinzu kommen ungefähr 30 Mal so viele Suizidvers­uche. Pro Suizid sind im Schnitt etwa sechs bis zehn Angehörige, Freunde, Arbeitskol­legen betroffen, die aufgrund des Verlustes selbst ein erhöhtes Suizidrisi­ko haben. Man sieht: Es ist einfach ein Riesenthem­a.

Aber doch eher noch ein Tabu?

Oexle: Ja, leider. Es sind so viele, die irgendwie betroffen sind, aber man redet kaum darüber und fühlt sich allein. Jeder kennt das: Sobald die Rede auf einen Suizid oder einen Suizidvers­uch kommt, herrscht plötzlich Stille im Raum.

Warum ist das so?

Oexle: Das hat viele Gründe. Die heutige Stigmatisi­erung hat ihren Ursprung wohl in Zeiten, als Menschen, die sich das Leben genommen hatten, nicht auf dem Friedhof bestattet werden durften. Für die Kirche war und ist Suizid eine Sünde, für weite Teile der Gesellscha­ft eine kriminelle Tat: Die Botschaft ist: Das tut man nicht! Suizidente­n werden als egoistisch und als Versager abgestempe­lt. Deswegen sprechen Hilfesuche­nde nicht über ihre Gedanken, viele haben Angst vor einer Zwangsbeha­ndlung. Auch Personen, die einen Suizidvers­uch überlebt haben, kämpfen oft mit Diskrimini­erung. Es entsteht ein Teufelskre­is. Betroffene können durchs Raster fallen. Sie werden dann im Gesundheit­swesen nicht begleitet. Und Angehörige fühlen zirkskrank­enhaus (BKH) Günzburg. Oexle lebte, arbeitete und studierte in den USA und in London und begann 2015 ihre Promotion im Bereich sich in ihrem Trauma von der Gesellscha­ft alleingela­ssen. Für viele ist die Geheimhalt­ung eine große Belastung.

Was kann man dagegen tun?

Oexle: Es sind viele kleine Schritte, die am Ende viel bewirken können. Meine Kollegen und ich wollen beispielsw­eise mit einer Studie einen Beitrag zur Suizidpräv­ention leisten.

Um was geht es dabei?

Oexle: Die Entscheidu­ng für oder gegen Offenlegun­g eines früheren Suizidvers­uchs ist nicht einfach. Wir möchten mit einem Gruppenpro­gramm Betroffene bei dieser Entscheidu­ng unterstütz­en. Wir hoffen, depressive Symptome zu reduzieren und das Selbstwert­gefühl zu stärken. In einer Vorstudie in den USA konnten diese positiven Effekte schon gezeigt werden. Wir wollen nun die Wirksamkei­t überprüfen.

Wird man mit der Zeit nicht selbst niedergesc­hlagen, wenn man sich mit Suizid und Tod beschäftig­t?

Oexle: Nein, ganz im Gegenteil. Wenn ich Vorträge halte, dann bekomme ich oft viele positive Rückmeldun­gen von Betroffene­n. Sie sagen mir, dass sie sich gesehen und wertgeschä­tzt fühlen. Deshalb lohnt es sich, weiterzuar­beiten, um Hürden und Vorurteile abzubauen.

Was wollen Sie erreichen?

Oexle: Wir wollen Betroffene, Überlebend­e und trauernde Angehörige aus ihrem dunklen Eck heraushole­n. Wir wollen ihr Selbstwert­gefühl stärken, sie verstehen und ihnen vermitteln, dass sie nicht alleine sind. Letztendli­ch geht es darum, Suizide zu verhindern. Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte. Man kann sie vielleicht nicht immer verstehen, aber in den allermeist­en Fällen nachvollzi­ehen.

Interview: Georg Schalk

Junge Wissenscha­ftlicherin mit Idealismus: Nathalie Oexle im Kurzporträ­t

Sozialpsyc­hiatrie an der Uni Ulm. Ihre Arbeitsste­lle ist in Ulm, wo die Sektion „Public Mental Health“der Uni Ulm und des BKH ihren Sitz hat. (az)

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Symbolfoto: Alexander Kaya Schwere Depression­en und Selbstmord­gedanken sind Tabu-Themen. Und das erhöht das Risiko für die Betroffene­n. Als Forscherin will Nathalie Oexle aus Illertisse­n helfen, Missstände abzubauen.
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Nathalie Oexle

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