Die Ruhe nach dem Sturm
Migration Ein Jahr ist es her, dass Horst Seehofer die Einrichtung von Ankerzentren durchsetzte. Die politischen Wogen haben sich inzwischen geglättet. Auch der Minister selbst scheint von seiner harten Linie abgerückt zu sein
Berlin/Donauwörth Die Hitze liegt an diesem Tag drückend auf Donauwörth. Kaum jemand geht freiwillig auf die Straße. In der Alfred-DelpKaserne auf dem Schellenberg herrscht trotzdem reges Treiben. Afrikanische Familien ziehen mit Rollkoffern auf der breiten Zufahrt in Richtung Kontrolle, türkische Flüchtlinge schlendern in Grüppchen von einem Flachbau zum nächsten. Vorne an der alten Hauptwache müssen chipkartenähnliche Ausweise vorgezeigt werden. An den Wachleuten des privaten Sicherheitsdienstes kommt keiner einfach so vorbei, weder rein noch raus. Damit die Asylbewerber, die hier im größten schwäbischen Ankerzentrum untergebracht sind, nicht zu lange in der prallen Sonne oder – an anderen Tagen – im Regen warten müssen, haben Handwerker ein Holzdach über den gusseisernen Drehkreuzen an der Hauptwache errichtet. Es ist ein Kommen und Gehen in dieser Einrichtung, die die klassische Erstaufnahme-Einrichtung abgelöst hat.
Ein Jahr ist es her, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die ersten Ankerzentren eingerichtet hat – ein Konzept für das er sich regelrecht verkämpft hatte. Ziel war es, die zuständigen Behördenleistungen für Migranten zu bündeln. Die SPD lief Sturm gegen die Pläne, die Teil von Seehofers „Masterplan Migration“waren. Der Begriff „Ankerzentrum“landete gar auf Platz drei der Wörter des Jahres 2018 der Gesellschaft für deutsche Sprache. Heute sind bundesweit 13 Ankerzentren und funktionsgleiche Einrichtungen in Betrieb. Ihre Bilanz könnte unterschiedlicher kaum ausfallen.
Seehofers Berliner Innenministerium ist offiziell zufrieden: Ein „Erfolgsmodell“seien die Zentren geworden, lässt ein Sprecher wissen. Das zeige sich an den Zahlen, die belegen würden, dass die Verfahrensdauer verkürzt und die Beratungsleistungen für Flüchtlinge gebündelt wurden. „Im Rahmen eines permanenten Verbesserungsprozesses versuchen wir gemeinsam, weitere Fortschritte zu erzielen, das gilt insbesondere bei der Rückführung“, erklärt der Sprecher des Ministeriums. Übersetzt heißt das: Bei den Abschiebungen hapert es noch. Trotzdem ist man auch im bayerischen Innenministerium geradezu euphorisch: „Unsere sieben bayerischen Ankereinrichtungen haben sich in der Praxis absolut bewährt. Die Asylverfahren sind schneller und effizienter geworden“, sagt Joachim Hermann (CSU).
Auch den Einwurf, dass selbst der Freistaat inzwischen von der eigenen Idee abrückt und etwa das Zentrum in Donauwörth zugunsten dezentraler Einrichtungen auflöst, will er nicht gelten lassen. Zwar sei man mit der Einrichtung von Dependancen für die Unterbringung von Asylbewerbern von der „reinen Lehre“abgewichen. Die Erfahrungen hätten aber gezeigt, dass der entscheidende Vorteil eines Ankerzentrums das Behördenzentrum sei. Wo die Asylbewerber wohnen, sei weniger bedeutsam als die zügige Abwicklung der Verfahren. Im Durch
schnitt liege der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nach zwei Monaten vor. Verzögerungen gebe es nur noch durch die Verwaltungsgerichtsverfahren.
Die Helfer des Bayerischen Flüchtlingsrates sind da freilich anderer Meinung. Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Stephanie Hinum von der Organisation „Ärzte der Welt“beklagt den Mangel an Privatsphäre und Schlaf sowie Angst vor gewalttätigen Übergriffen in den Ankerzentren, die „gesunde Menschen krank und psychisch Kranke noch kränker“machen würde. Die Enge, in der viele Menschen unterschiedlicher Herkunft untätig aufeinandersitzen, fördere Konflikte. Besonders für Frauen fehlten Rückzugsräume. „Einiges ist besser geworden, einiges ist schlecht geblieben, manches schlechter geworden“, sagt der Caritas-Direktor von München und Oberbayern, Georg Falterbaum. „Die Aufenthaltsdauer der Zufluchtsuchenden hat sich nicht wirklich verkürzt.“Nur anerkannte Asylbewerber profitierten durch kürzere Aufenthalte in den Zentren. „Rund 80 Prozent der Flüchtlinge leben nach unserer Kenntnis länger als ein Jahr dort“, sagt Falterbaum. „In Manching harren etwa 100 Menschen sogar länger als zwei Jahre in der ehemaligen Kaserne aus.“
Und auch die Opposition hat längst noch nicht ihren Frieden gemacht mit den Einrichtungen. „Die Ankerzentren sind und bleiben ein integrationspolitischer Offenbarungseid“, sagt Konstantin von Notz, Fraktionsvize der Grünen im Bundestag. „Die Kasernierung von so vielen Menschen mit unsicherer Bleibeperspektive und ohne Beschäftigung ist sicherheitspolitisch hoch bedenklich und führt zwangsläufig zu Konflikten, psychischer Belastung und Erkrankungen.“
Pragmatischer ist inzwischen der Koalitionspartner SPD. „Gemessen an dem Sommertheater des letzten Jahres um die Ankerzentren zeigt sich, dass alles damit steht und fällt, ob genügend Personal vorhanden ist, um Asylanträge sorgfältig und trotzdem zügig abzuarbeiten und Rückführungen konsequent durchzuführen“, sagt Burkhard Lischka, Migrationsexperte der SPD. „Wie die Einrichtungen dann letztlich heißen, ist vollkommen egal.“
Der politische Vater der Ankerzentren will sich derweil gar nicht mehr in die Debatte einschalten. Überhaupt ist ausgerechnet Seehofer, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise einen Konflikt nach dem anderen anheizte, erstaunlich ruhig, ja geradezu besonnen geworden. Die Hauptstadtjournalisten staunen: Der ehemals brüllende Löwe ist in Berlin zum sanften Lamm mutiert und geriert sich wie ein altersmilder Vater, der seine Kinder beschützen will. Die Kinder, das sind dann wahlweise die Bürger im Land oder die anderen Minister im Kabinett. In Berlin kommt Seehofers Auftreten so an, als habe der große Bayer seinen Frieden gemacht. Mit sich. Mit seinem Amt, das ihm angesichts der Fülle von neuen Aufgaben zunächst gar nicht so gefiel. Und mit denen, die ihm persönlich und politisch oft in die Parade gefahren sind.
In München hingegen gibt es auch die anderen. Die, die mit dem neuen Kurs hadern. Die, die noch etwas werden wollen. Dass kaum jemand in der CSU glaubt, dass die Bundesregierung noch lange durchhält, macht die Situation noch brisanter. Der erste Nadelstich gegen den früheren Parteichef kam aus der Ecke der konservativen Hardliner um Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Dort wurde Seehofer vorgehalten, den Seenotrettern im Mittelmeer allzu viel Verständnis entgegenzubringen und die Forderungen der CSU nach Begrenzung der Zuwanderung, Sicherheit und Ordnung zu vernachlässigen. Sogar „Kirchentags-Romantik“wurde ihm unterstellt.
Eine Mehrheit hätten Seehofers Kritiker in der Landesgruppe aber nicht, beteuern liberalere Abgeordnete. „Das sind nur einige wenige“, sagt ein Altgedienter. Er listet auf, was Seehofer als Bundesinnenminister durchgesetzt habe – unter anderem eine deutliche Begrenzung der Flüchtlingszahlen und eine effektivere Organisation der Arbeit des Bundesamtes für Migration. Und er warnt seine Kollegen vor Übermut. Wer auf baldige Neuwahlen setze, müsse sich über die Alternativen im Klaren sein. Da gebe es dann nur das „Bremer Modell“, also Rot-RotGrün. „Dann sitzen wir in der Opposition.“Oder die CSU müsse in eine schwarz-grüne Koalition. „Das würden viele bei uns noch nicht verkraften.“
Mittlerweile, so heißt es von Vertretern beider Seiten, sei der „Zweiklang aus Humanität und Ordnung“in der CSU wiederhergestellt – „vor allem in unserer Darstellung nach außen“. Seehofer habe klargemacht, dass die CSU keine
„Ich glaube, dass man Horst Seehofer unrecht tut, wenn man ihm abspricht, eine humanitäre Flüchtlingspolitik betreiben zu wollen.“Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin
„Seebrücke übers Mittelmeer“wolle. Es sei aber auch klar, dass es Position der CSU sei, „dass Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden müssen“. Man müsse pragmatische und praktikable Lösungen suchen.
Ähnlich wird in der Partei auch die Sache mit den Ankerzentren gesehen. „Wenn wir so viel weniger Flüchtlinge haben, dann muss man nicht größere Einheiten mit all ihren Nachteilen schaffen“, heißt es aus der schwäbischen CSU. Entscheidend sei nur, dass die Asylverfahren möglichst schnell abgewickelt werden und die Rückführungen abgelehnter Asylbewerber in ihre Heimatländer gelinge.
Für Ursula Münch ist das eine Taktik, die aufgeht. „Die CSU hat durchaus aus Fehlern gelernt“, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Sie hat gemerkt, dass es nur der AfD nutzt, wenn immer nur die Fehler und Schwächen betont werden.“Es gebe in der CSU genau wie in der übrigen Bevölkerung einen nicht zu unterschätzenden Teil, der eine sichtbare Migrationspolitik einfordere. Aber eben auch jene, die Humanität zum Grundsatz des politischen Handelns erheben wollen. „Vielleicht gelingt es Horst Seehofer heute, dieses Sowohl-als-auch, das in die Migrationspolitik hineingehört, besser zu akzeptieren. Ihm scheint eine Last genommen“, sagt Ursula Münch. Mangelnde Glaubwürdigkeit kann sie nicht erkennen. „Ich glaube, dass man Seehofer unrecht tut, wenn man ihm abspricht, eine humanitäre Flüchtlingspolitik betreiben zu wollen. Heute schafft er es eher, das wieder herauszukehren.“