Tannhäuser, völlig losgelöst
Bayreuther Festspiele Tobias Kratzer inszeniert Wagners Oper ebenso respektlos wie genialisch als Kunststück, Parodie – und auch ein bisschen als „Tatort“. Ein szenischer Hochgenuss
rück zur offiziellen Hochkultur, die sich als Festspielhaus-Bühnenbild manifestiert – einschließlich pilgerndem, sich Luft zufächelndem Festspielpublikum. Zunächst aber entlohnt Elisabeth den Tannhäuser durch eine saftige Watschn für den langen vorehelichen Seitensprung mit Venus. Recht hat sie. Aber es nutzt ihr nichts.
Und nun kommt der zweite Aufzug, und der ist kühn, knackig und frech. Im Spiel-im-Spiel-Festspielhaus wird der „Tannhäuser“gegeben, Sängerkrieg auf der originalgetreu aufgebauten Wartburg. Venus hat nicht locker gelassen, schwor Rache, muss unbedingt dabei sein. Zusammen mit besagter DragQueen, zusammen mit dem kleinwüchsigen Oskar Matzerath aus Günter Grass’ „Blechtrommel“– das sind Tannhäusers ehemalige Kumpane –, entert sie über die Leiter den Königsvorbau des Bayreuther Festspielhauses und dringt ein in die Eingeweide des Allerheiligsten. Herrlich, herrlich die Film-Sequenz, da diese schrille Drag-Queen namens Le Gateau Chocolat (deutsch: Schokoladentorte), die im wirklichen Leben ein schwarzer, bekennend homosexueller Musikkabarett-Künstler ist, in einem Garderobengang ein Foto-Porträt Christian Thielemanns inspiziert. Da blicken sich zwei in die Augen! So was hat Zündstoff in mehrerlei Hinsicht. Das Publikum wiehert vor Vergnügen.
Und dann schafft es Venus rechtzeitig zum großen Vorsingen. Und rechtzeitig auch, damit Tannhäuser wieder umpolt – von Elisabeth zurück auf Venus. Die alten diversen Kameraden und ihre politisch-ästhetischen Überzeugungen – „frei im Thun“– stehen ihm letztlich doch näher als die verknöcherten, lustfeindlichen Überzeugungen der herrschenden Klasse in Sachen Liebe. Und Venus nimmt ihn – ausgelassen tanzend – gern zurück.
Aber die beiden haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Tannhäuser wird auf offener Bühne von der bayerischen Staatspolizei verhaftet, weil er ja damals mit dabei war, als Venus den Polizisten mutwillig über den Haufen fuhr. Mit ihrem Polit-Parolen-Leitmotiv, das sie überall hinterlassen, auch am Festspielhaus, haben sie sich verraten. Es kommt ein Hauch „Tatort“ins Spiel. Übrigens sehen wir im Video parallel zum Sängerkrieg, wie Bayreuth-Chefin Katharina Wagner selbst per Notruf die Gesetzeshüter in Gang gesetzt hat. Mit Blaulicht und angelegten Waffen stürmen sie. Wagners Revolutionsparole am Festspielhaus: Das bedeutet höchste Terrorgefahr. Und dann wird Tannhäuser abgeführt. Nun heißt es: Sühne, Buße, Strafe. Bei Wagner bedeutet das: Pilgerfahrt gen Rom, Ablass durch diesen Stellvertreter im Vatikan.
Aber mit der Religion hält es Tobias Kratzer nicht so. Er blendet sie aus – so wie Regisseursgenerationen vor ihm weitgehend ausgeblendet haben, wie viel von Richard Wagner in der Figur des Tannhäuser steckt. Der Sänger Tannhäuser flieht aus dem Reich der Venus, an deren
Seite er eine Zeit lang sinnenfreudig lebte. Auf der Wartburg nimmt er teil an einem Wettstreit der Sänger, darunter auch Wolfram, der wie Tannhäuser sich zur gräflichen
Nichte Elisabeth hingezogen fühlt. Tannhäuser rühmt in seinem Lied die sinnliche Liebe, was in der höfischen Gesellschaft einen Skandal verursacht. Er zieht nach Rom zum Papst, erhält dort aber keine Absolution. Als er gebrochen zurückkehrt, verzichtet Elisabeth auf ein Leben mit Tannhäuser und stirbt – eine Opfertat, die Tannhäuser letztlich entsühnt. (AZ) Wir treffen diesen wieder – und nun wird es tieftragisch und ein wenig nihilistisch – auf einem Schrottplatz, unter Obdachlosen. Oskar, der Trommler (Manni Laudenbach), speist stumm die umherirrende Elisabeth, die sich zunächst Wolfram von Eschenbach hingibt, weil der sich als Tannhäuser verkleidet hat, sich aber dann – noch einmal – die Pulsadern aufschneidet. Jetzt mit letalem Ausgang.
Tannhäuser hat sie endgültig verloren. Und ein Zurück in die alte Künstler-Outlaw-Polit-Kommune scheint ebenfalls aussichtslos: Le Gateau Chocolat hat als Drag-Queen solo Karriere gemacht; ein Riesenplakat zeigt sie neben einer BlingBling-Luxus-Armbanduhr als Eigenkreation. Wahn, überall Wahn; Verrat, überall Verrat!
Tobias Kratzer aber hat es begriffen: Der beste Platz, auch als Künstler, ist der zwischen allen Stühlen. Der Wahrheiten und Widersprüche zwischen Hoch- und UndergroundKultur gibt es viele. Kratzer inszeniert sie als „Kunststück“zusammen mit den ebenbürtigen Kollegen Rainer Sellmaier (Ausstattung) und Manuel Braun (Video) überlappend, genialisch, respektlos. In einem Atemzug ruft er „Toleranz“und mahnt und warnt dennoch. In einem Atemzug bietet er Werkgerechtigkeit und Parodie. Er wird der Bühnen-Dialektiker der Zukunft sein, er wird die alt gewordenen Heroen des sogenannten Regietheaters ablösen. Bayreuth hat in ihm das nötige Heil gefunden, auch hinsichtlich von Selbstironie: Der Abend startet mit einem Video, in dem der Venus-Citroën an einer Biogasanlage vorbeifährt, die „mangels Nachfrage“geschlossen wurde. Eine Anspielung auf die letzte, komplett missratene Bayreuther „Tannhäuser“-Inszenierung – und ein Seitenhieb unter vielen für alle Eingeweihten.
Vielleicht wird die nächste „Tannhäuser“-Inszenierung irgendwann Ende der 2020er-Jahre einen Seitenhieb auf Valery Gergiev am Pult vor dem diesjährigen Festspielorchester parat halten. Nicht, dass es keine schönen Stellen gegeben hätte – wofür sich insbesondere die außerordentlich warmen Streicher und das Holz des Bayreuther Festspielorchesters starkmachten. Aber insgesamt mangelte es doch an Zauber und Überhöhung. Zu viel blieb im rein Illustrativen und Handwerklichen stecken.
Übermächtige künstlerische Aura ging bei der Premiere nur von einer einzigen Bühnenfigur aus, von der im zweiten Aufzug autoritativ einschreitenden Elisabeth. Lise Davidsen sang sie als ein neues Stimmwunder. Was für ein durchschlagender Edelstahl-Strahl! Da wächst wohl peu à peu eine Hochdramatische
Die Drag-Queen Aug’ in Aug’ mit Christian Thielemann Wagners „Tannhäuser“ Im Citroën wird hochdramatisch gesungen
von Weltklasse heran. Letztlich kann ihr auch der etwas behäbige Stephen Gould als Tannhäuser nicht das Wasser reichen. Singt er auch zuverlässig und weitgehend höhensicher, so wirkt sein Heldentenor in der Rom-Erzählung dann doch leicht angegriffen und rau. Kantabel gestaltet Markus Eiche die Partie des Wolfram; bei Stephen Milling als Landgraf Hermann vermisst man doch ein wenig vokal gebietende Macht. Eine aufgekratzt-präsente Darstellerin ist Elena Zhidkova als Venus. Sie hat es gewiss nicht leicht, im Citroën gegen Tannhäusers Überdruss anzusingen, manches verrutscht ihr, aber im Finale dann singt sie sich frei.
Jubel und wenige Buhs für Kratzer, gebremster Applaus und wenige Buhs für Gergiev, reine Euphorie über Lise Davidsen. Bayreuth hat eine begeistert begrüßte „Tannhäuser“-Tolldreistigkeit.
TV Der Fernsehsender 3sat bringt an diesem Samstag, 27. Juli, eine Aufzeichnung des neuen „Tannhäuser“aus dem Festspielhaus in Bayreuth (20.15 Uhr).