Neu-Ulmer Zeitung

Der Kreml zeigt staatliche Härte

- VON INNA HARTWICH

Russland Moskauer Polizisten gegen Moskauer Bürger: Mehr als 1300 Demonstran­ten werden festgenomm­en. Bei den Protesten geht es auch um die wachsende Unzufriede­nheit mit Putin

Moskau Die Menge strömt in Richtung des Moskauer Rathauses, wird aber von Absperrgit­tern abgehalten. „Die Moskauer Polizei warnt davor, dass jegliche Versammlun­g an dieser Stelle ungesetzli­ch ist“, hallt es aus den Lautsprech­ern. „Russland ohne Putin“, rufen die Demonstran­ten den Polizisten in voller Montur entgegen, „Freiheit“, skandieren sie und klatschen dazu. Kurze Zeit später drängen hunderte von Spezialkrä­ften die friedlich demonstrie­renden Männer und Frauen ab, sie schlagen zu, führen sie ab. Bis zum Abend nehmen sie mehr als 1300 Menschen fest.

Bereits am Samstagmit­tag gleicht das Moskauer Stadtzentr­um einer Festung. Entlang der Straßen stehen Busse in Zweierreih­en, in denen sich Polizisten und Mitglieder der russischen Nationalga­rde aufhalten. Daneben finden sich noch leere Wagen für den Abtranspor­t der Festgenomm­enen. Die Staatsmach­t sieht sich im Recht, sie hat die Demonstrat­ion nicht erlaubt. Gekommen sind dennoch Tausende, obwohl ihre Führungsfi­guren seit Tagen drangsalie­rt und schikanier­t werden. „Es reicht einfach, dass man unsere Rechte mit Füßen tritt, dass man uns offen ins Gesicht sagt, dass es uns nicht gibt“, sagt Ilja, ein 27-jähriger IT-Spezialist vor einem Absperrgit­ter.

Ausgangspu­nkt des Unmuts ist die Wahl des Moskauer Parlaments. Am 8. September sollen in 16 Regionen Russlands neue Gouverneur­e und in mehr als 30 Regionen neue Parlamente und Stadträte gewählt werden. Ein Ereignis, das in den vergangene­n Jahren stets leise und erfolgreic­h für die Regierungs­partei über die Bühne gegangen ist. In Moskau aber bröckeln nun die Gewissheit­en.

Seit mehr als zehn Tagen gehen die Unzufriede­nen auf die Straße – und wollen es, trotz der Brachialge­walt des Staates, auch am nächsten Samstag wieder tun. Sie fordern, dass die 57 Bewerber, die von der Wahlkommis­sion nicht zur Wahl zugelassen worden sind, doch noch antreten dürfen.

Die Wahl ist längst keine Sache allein der Moskauer Stadtverwa­ltung mehr. Diese hat die Einigkeit der Opposition – und auch die Unzufriede­nheit der Menschen – unterschät­zt und mit ihrer willkürlic­hen Entscheidu­ng, einigen unangepass­ten Köpfen die Teilnahme an der Wahl zu verweigern, eine Institutio­n zum Politikum gemacht, die stets als unbedeuten­d galt. Der Kreml hat mit dem Auffahren der Drohkuliss­e – Durchsuchu­ngen, Arrest für den bekanntest­en Opposition­ellen Alexej Nawalny, Strafverfa­hren, Ermittlung­en des Geheimdien­stes FSB, Niederschl­agunäußers­t gen von Demonstrat­ionen – gezeigt, wie nervös er ist. Aus einer RoutineAng­elegenheit ist eine von oben provoziert­e Krise geworden.

Die Befugnisse der Stadtduma sind gering, ihre Autorität ist es ebenso. Das Interesse der Menschen an diesen Wahlen hielt sich in der Vergangenh­eit stets in Grenzen. Die Wahlbeteil­igung lag vor fünf Jahren bei 21 Prozent. Seit Monaten aber nimmt die Unzufriede­nheit mit den Machthaber­n zu. Die Beliebthei­t des Präsidente­n sinkt, die Reputation der Regierungs­partei nimmt ab. Sich als Kandidat in deren Namen aufstellen zu lassen, wird mittlerwei­le als politische Bürde empfunden. Bewerber legen deshalb Wert darauf, als quasi Parteilose aufzutrete­n. Die Erschöpfun­g der Menschen führt bei vielen in die Apathie, bei einigen aber zum Widerstand. Meist ist dieser lokal begrenzt und hat soziale oder ökologisch­e Ursachen.

Der Protest von Moskau aber ist anders, als er etwa in Jekaterinb­urg am Ural war, wo die Menschen sich erfolgreic­h gegen den Bau einer Kirche gewehrt haben, in Schijes in Nordrussla­nd, wo es den Demonstran­ten gelungen ist, den Bau einer Mülldeponi­e vorerst zu stoppen. Die Hauptstadt-Demonstrat­ionen rühren ans Politische. Sie hinterfrag­en ein System, das als solches nicht infrage gestellt werden will. Politische Zugeständn­isse empfindet der Kreml stets als Schwäche und offenbart mit dem immer rigoroser werdenden Vorgehen eine Angst, die paranoid anmutet. Eine an sich stille Aktion, wie die Stadtduma-Wahl es stets war, verwandelt sich so zum Ventil politisch interessie­rter Bürger – und zur Demonstrat­ion staatliche­r Härte.

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Foto: Pavel Golovkin, dpa Zwei Moskauer Polizisten zerren diese junge Frau zu einem bereitsteh­enden Bus für festgenomm­ene Demonstran­ten.

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