Arbeiten für 1,20 Euro pro Stunde
Gesellschaft Wer in einem Heim lebt und eine Ausbildung macht, muss einen Großteil seines Einkommens an den Staat abgeben. Wie ein junger Mann damit lebt und welche Forderungen es gibt
Stadtbergen Für einen Euro und zwanzig Cent bekommt man eine Tafel Schokolade. Man kann dafür in München eine knappe halbe Stunde parken. Oder sich eine Kugel Eis kaufen. Kurzum: Allzu große Sprünge sind nicht drin. Nun gibt es aber Menschen, die pro Stunde genau das verdienen. 1,20 Euro. Oder sogar noch weniger – manche bekommen gerade mal einen Euro. Es sind Menschen, die es in ihrem Leben eigentlich schon schwer genug haben.
Justin Trost steht neben einem weißen Smart. Eben hat er den Generator ausgebaut. In etwa einer Stunde soll der Wagen fertig sein. Justin ist 17 Jahre alt und macht im Autohaus Stadtbergen in der Nähe von Augsburg eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. Und er muss – so unglaublich das auch klingt – einen gewaltigen Brocken seines Lohns abgeben: Am Ende bleiben ihm nur rund 200 Euro übrig. Umgerechnet ist das ein Stundenlohn von etwa 1,20 Euro. „Das ist einfach ungerecht“, sagt der junge Mann.
Der Grund, warum Justin den Großteil seines Lohns nicht behalten darf, ist der: Wer in Deutschland bei Pflegeeltern oder – wie Justin – in einem
Justin Trost: „Wir haben uns das ja nicht ausgesucht“
Heim lebt, muss von seinem verdienten Geld 75 Prozent ans Jugendamt zahlen. In manchen Fällen können die Ämter davon abweichen und weniger verlangen. So wie bei Justin, dem 65 Prozent abgezogen werden. Wenn man ihn auf die Regelung anspricht, schüttelt er ernüchtert den Kopf. „Was können wir denn dafür, dass wir im Heim leben? Wir haben uns das ja nicht ausgesucht.“Eigentlich, findet er, müssten die Eltern für die Heimkosten aufkommen. Nicht die Kinder.
Der Auszubildende, der seit vier Jahren in einem Heim in der Nähe von Augsburg lebt, ist längst nicht der Einzige, der sich über die Regelung ärgert. Schon seit längerem wird in Berlin darüber debattiert, den Prozentsatz zu senken. Eine Verminderung des Umfangs der sogenannten „Kostenheranziehung“auf 50 Prozent war bereits Gegenstand eines Gesetzentwurfes. Der Bundestag hatte das Gesetz Ende Juni auch beschlossen – im Bundesrat ist der Änderungsversuch dann allerdings einfach liegen geblieben.
großer Aufreger war das bislang nicht. Denn in der Öffentlichkeit hat das Thema bisher keinen allzu breiten Raum eingenommen – obwohl die Zahl der Betroffenen hoch ist. Denn in Deutschland wohnen rund 100000 Kinder und Jugendliche in Heimen. Hinzu kommen noch etwa knapp 90 000, die in Pflegefamilien leben.
Einer, der sich um solche Jugendlichen kümmert, ist Norbert Haban. Er leitet das Josefsheim in Reitenbuch im Landkreis Augsburg und findet: „Die jungen Menschen leisten etwas in ihrer Ausbildung. Und dafür müssen sie auch genug Geld bekommen.“Die derzeitige Regelung sei für die Motivation, arbeiten zu gehen, nicht gerade förderlich. Außerdem hätten viele Jugendlichen Probleme, etwas zur Seite zu legen, um nach ihrer Zeit im Heim ein selbstständiges Leben beginnen zu können.
Auch Justin würde gerne Geld sparen. Um sich, wenn er nächstes Jahr 18 wird, ein Auto leisten zu können. Aber allein den Führerschein zu bezahlen, sei nicht einfach. Dafür muss er pro Monat etwa 100 Euro einplanen. Dann bleibt nicht mehr viel übrig, von dem er dann seine Handy-Rechnung bezahlt und das, was man als Jugendlicher eben gerne macht: Mit Freunden ins Kino, auf Partys oder in die Pizzeria gehen. „Ich hoffe, dass die Regelung komplett wegfällt. Aber ich könnte auch damit leben, wenn mir 20 Prozent abgezogen würden“, sagt der 17-Jährige.
Den Landesheimrat Bayern, der sich für die Interessen junger Menschen aus der stationären Kinderund Jugendhilfe einsetzt, beschäftigt das Thema seit vielen Jahren. Auf der Internetseite des Gremiums ist eine eindeutige Forderung zu lesen: Die Kostenheranziehung solle den Anteil von 50 Prozent des Einkommens keinesfalls überschreiten. Die bisherige Regelung habe zur Folge, dass sich Menschen aus der Heimerziehung benachteiligt, ausgegrenzt und ungerecht behandelt fühlten.
Auch Kerstin Celina, sozialpolitische Sprecherin der Landtagsgrünen, plädiert für eine Verringerung auf 50 Prozent. Die aktuelle Regelung würde die betroffenen JugendEin lichen benachteiligen. „Das gerade den jungen Menschen zuzumuten, die oft sowieso sehr schlechte Startchancen haben und auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden oft zusätzlich massive persönliche und familiäre Probleme bewältigen müssen, ist einfach falsch.“Ähnlich äußert sich Andreas Schalk, Mitglied im Arbeitskreis Arbeit und Soziales, Jugend und Familie der CSU-Fraktion im Landtag: „Wenn man den Jugendlichen 75 Prozent des Einkommens wieder als Kostenbeitrag abnimmt, ist das kontraproduktiv. Deshalb unterstützen wir die Bestrebungen in Berlin, die bestehenden Regeln zu verändern, damit den jungen Menschen mehr vom eigenverdienten Geld bleibt.“
Das wünscht sich auch Justin. Für ihn wird eine etwaige Änderung der Regelung aber wohl zu spät kommen. Der junge Mann beendet seine Lehre im Autohaus Anfang 2021. Und dann? Vielleicht eine eigene Wohnung, sagt Justin und blickt auf den weißen Smart, an dem er an diesem Vormittag herumgeschraubt hat. Für einen Stundenlohn von einem Euro und zwanzig Cent.