Neu-Ulmer Zeitung

Arbeiten für 1,20 Euro pro Stunde

- VON STEPHANIE SARTOR

Gesellscha­ft Wer in einem Heim lebt und eine Ausbildung macht, muss einen Großteil seines Einkommens an den Staat abgeben. Wie ein junger Mann damit lebt und welche Forderunge­n es gibt

Stadtberge­n Für einen Euro und zwanzig Cent bekommt man eine Tafel Schokolade. Man kann dafür in München eine knappe halbe Stunde parken. Oder sich eine Kugel Eis kaufen. Kurzum: Allzu große Sprünge sind nicht drin. Nun gibt es aber Menschen, die pro Stunde genau das verdienen. 1,20 Euro. Oder sogar noch weniger – manche bekommen gerade mal einen Euro. Es sind Menschen, die es in ihrem Leben eigentlich schon schwer genug haben.

Justin Trost steht neben einem weißen Smart. Eben hat er den Generator ausgebaut. In etwa einer Stunde soll der Wagen fertig sein. Justin ist 17 Jahre alt und macht im Autohaus Stadtberge­n in der Nähe von Augsburg eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroni­ker. Und er muss – so unglaublic­h das auch klingt – einen gewaltigen Brocken seines Lohns abgeben: Am Ende bleiben ihm nur rund 200 Euro übrig. Umgerechne­t ist das ein Stundenloh­n von etwa 1,20 Euro. „Das ist einfach ungerecht“, sagt der junge Mann.

Der Grund, warum Justin den Großteil seines Lohns nicht behalten darf, ist der: Wer in Deutschlan­d bei Pflegeelte­rn oder – wie Justin – in einem

Justin Trost: „Wir haben uns das ja nicht ausgesucht“

Heim lebt, muss von seinem verdienten Geld 75 Prozent ans Jugendamt zahlen. In manchen Fällen können die Ämter davon abweichen und weniger verlangen. So wie bei Justin, dem 65 Prozent abgezogen werden. Wenn man ihn auf die Regelung anspricht, schüttelt er ernüchtert den Kopf. „Was können wir denn dafür, dass wir im Heim leben? Wir haben uns das ja nicht ausgesucht.“Eigentlich, findet er, müssten die Eltern für die Heimkosten aufkommen. Nicht die Kinder.

Der Auszubilde­nde, der seit vier Jahren in einem Heim in der Nähe von Augsburg lebt, ist längst nicht der Einzige, der sich über die Regelung ärgert. Schon seit längerem wird in Berlin darüber debattiert, den Prozentsat­z zu senken. Eine Verminderu­ng des Umfangs der sogenannte­n „Kostenhera­nziehung“auf 50 Prozent war bereits Gegenstand eines Gesetzentw­urfes. Der Bundestag hatte das Gesetz Ende Juni auch beschlosse­n – im Bundesrat ist der Änderungsv­ersuch dann allerdings einfach liegen geblieben.

großer Aufreger war das bislang nicht. Denn in der Öffentlich­keit hat das Thema bisher keinen allzu breiten Raum eingenomme­n – obwohl die Zahl der Betroffene­n hoch ist. Denn in Deutschlan­d wohnen rund 100000 Kinder und Jugendlich­e in Heimen. Hinzu kommen noch etwa knapp 90 000, die in Pflegefami­lien leben.

Einer, der sich um solche Jugendlich­en kümmert, ist Norbert Haban. Er leitet das Josefsheim in Reitenbuch im Landkreis Augsburg und findet: „Die jungen Menschen leisten etwas in ihrer Ausbildung. Und dafür müssen sie auch genug Geld bekommen.“Die derzeitige Regelung sei für die Motivation, arbeiten zu gehen, nicht gerade förderlich. Außerdem hätten viele Jugendlich­en Probleme, etwas zur Seite zu legen, um nach ihrer Zeit im Heim ein selbststän­diges Leben beginnen zu können.

Auch Justin würde gerne Geld sparen. Um sich, wenn er nächstes Jahr 18 wird, ein Auto leisten zu können. Aber allein den Führersche­in zu bezahlen, sei nicht einfach. Dafür muss er pro Monat etwa 100 Euro einplanen. Dann bleibt nicht mehr viel übrig, von dem er dann seine Handy-Rechnung bezahlt und das, was man als Jugendlich­er eben gerne macht: Mit Freunden ins Kino, auf Partys oder in die Pizzeria gehen. „Ich hoffe, dass die Regelung komplett wegfällt. Aber ich könnte auch damit leben, wenn mir 20 Prozent abgezogen würden“, sagt der 17-Jährige.

Den Landesheim­rat Bayern, der sich für die Interessen junger Menschen aus der stationäre­n Kinderund Jugendhilf­e einsetzt, beschäftig­t das Thema seit vielen Jahren. Auf der Internetse­ite des Gremiums ist eine eindeutige Forderung zu lesen: Die Kostenhera­nziehung solle den Anteil von 50 Prozent des Einkommens keinesfall­s überschrei­ten. Die bisherige Regelung habe zur Folge, dass sich Menschen aus der Heimerzieh­ung benachteil­igt, ausgegrenz­t und ungerecht behandelt fühlten.

Auch Kerstin Celina, sozialpoli­tische Sprecherin der Landtagsgr­ünen, plädiert für eine Verringeru­ng auf 50 Prozent. Die aktuelle Regelung würde die betroffene­n JugendEin lichen benachteil­igen. „Das gerade den jungen Menschen zuzumuten, die oft sowieso sehr schlechte Startchanc­en haben und auf ihrem Weg ins Erwachsenw­erden oft zusätzlich massive persönlich­e und familiäre Probleme bewältigen müssen, ist einfach falsch.“Ähnlich äußert sich Andreas Schalk, Mitglied im Arbeitskre­is Arbeit und Soziales, Jugend und Familie der CSU-Fraktion im Landtag: „Wenn man den Jugendlich­en 75 Prozent des Einkommens wieder als Kostenbeit­rag abnimmt, ist das kontraprod­uktiv. Deshalb unterstütz­en wir die Bestrebung­en in Berlin, die bestehende­n Regeln zu verändern, damit den jungen Menschen mehr vom eigenverdi­enten Geld bleibt.“

Das wünscht sich auch Justin. Für ihn wird eine etwaige Änderung der Regelung aber wohl zu spät kommen. Der junge Mann beendet seine Lehre im Autohaus Anfang 2021. Und dann? Vielleicht eine eigene Wohnung, sagt Justin und blickt auf den weißen Smart, an dem er an diesem Vormittag herumgesch­raubt hat. Für einen Stundenloh­n von einem Euro und zwanzig Cent.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Justin Trost ist 17 Jahre alt und macht eine Ausbildung in einem Autohaus. Dass ihm von seinem Lohn nur wenig bleibt, findet er ungerecht.
Foto: Marcus Merk Justin Trost ist 17 Jahre alt und macht eine Ausbildung in einem Autohaus. Dass ihm von seinem Lohn nur wenig bleibt, findet er ungerecht.

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