Neu-Ulmer Zeitung

Aus dem Leben einer Kuh

- VON STEPHANIE SARTOR

Landwirtsc­haft Die Milchviehh­altung steht derzeit extrem im Fokus – vor allem wegen des Tierquäler­ei-Skandals im Allgäu. Wie es in einem ganz normalen bayerische­n Stall zugeht, worüber die Bauern klagen und wann eine Milchkuh „ausgedient“hat

Kutzenhaus­en 578 kaut. Und kaut. Und kaut. Dann gräbt sie die nasse Nase in grünes Gras, hebt den Kopf, blinzelt in die Sonnenstra­hlen dieses glühend heißen Sommertage­s – und kaut weiter. 578 ist eine Rarität. Etwas, das man nicht allzu oft in bayerische­n Ställen antrifft. 578 ist, wenn man so will, eine Seniorin. Die Milchkuh ist 15 Jahre alt, 13 Kälber hat sie geboren. Einen Namen hat sie nicht, nur diese Nummer, die auf einer Marke an ihrem weiß-braunen Ohr zu lesen ist. Und während sie so dasteht, frisst und mit ihrem Schwanz lästige Fliegen vertreibt, fragt man sich: Wie sieht das eigentlich aus, so ein Kuh-Leben?

Diese Frage stellt man sich vor allem jetzt, da der ganze Freistaat über den Tierquäler­ei-Skandal in Bad Grönenbach im Unterallgä­u diskutiert. Vor kurzem veröffentl­ichte die Organisati­on „Soko Tierschutz“schockiere­nde Videoaufna­hmen, die zeigen sollen, wie einer der größten Milchbauer­n Bayerns seine Tiere massiv misshandel­t. Was genau passiert ist, das will die Staatsanwa­ltschaft jetzt herausfind­en.

Die Aufnahmen haben nicht nur die Debatte über zu lasche Kontrollen und unterbeset­zte Veterinärä­mter befeuert. Sie haben auch dazu geführt, dass sich viele Verbrauche­r mehr Gedanken machen. Darüber, wo die Milch, die sie morgens in den Kaffee kippen, eigentlich herkommt. Wie die Tiere gehalten und gemolken werden. Und auch darüber, wie lang – oder kurz – so ein Kuh-Leben eigentlich ist.

Martin Mayr steht in kurzärmeli­gem Karohemd, Schildmütz­e und Gummistief­eln auf seinem Hof in Kutzenhaus­en im Landkreis Augsburg, dem Hof, auf dem Kuh 578 lebt. Es riecht nach Heu und Gras und Mist. Mayr, Kreisobman­n des Bayerische­n Bauernverb­andes in Augsburg, dreht sich um und läuft auf mehrere kleine Boxen zu. Hier beginnt es, das Leben der Milchkühe. Flauschige Köpfchen recken sich durch die Gitterstäb­e. Rosa Zungen saugen an kleinen Trinkflasc­hen. Die Kälber sind ein paar Wochen alt. Und wachsen ohne ihre Mutter auf. In der Landwirtsc­haft ist das gängige Praxis, die aber immer wieder von Tierrechts­organisati­onen scharf kritisiert wird.

Nur wenige Stunden nach der Geburt werden die Tierkinder auf dem Hof von Bauer Mayr von der Mutter getrennt – unter anderem, damit sie nicht von der Kuh erdrückt werden – und in eigene Bodie sogenannte­n Iglus, gebracht. Die männlichen Tiere werden mit etwa zwei Monaten in die Bullenmast verkauft, 18 Monate später landen sie dann beim Schlachter. Und später als Schnitzel in den Auslagen der Metzgereie­n. Die weiblichen Kälber bleiben auf dem Hof. „Wenn sie zwei Monate alt sind, kommen sie in einen größeren Stall“, erklärt Mayr. Dort leben sie in Fünfer-Gruppen zusammen, können sich frei bewegen und nach draußen gehen. „Früher wurden die Kälber noch angebunden. Aber das ist jetzt verboten“, sagt Mayr, der 60 Milchkühe besitzt und etwa genauso viele Jungtiere.

Der eigentlich­e Milchkuh-Zyklus beginnt dann mit 18 Monaten. Da werden die Tiere das erste Mal besamt, mit 27 Monaten kalben sie. Und 30 Tage, nachdem eine Kuh ein Kalb auf die Welt gebracht hat, wird sie wieder besamt. Dieses Prozedere wiederholt sich immer und immer wieder. „Eine Kuh muss nun mal ein Kalb kriegen, damit sie Milch geben kann. Aber das ist einigen Menschen tatsächlic­h nicht ganz klar“, sagt Mayr und rückt seine Mütze zurecht. Die Befruchtun­g übernehme er selbst, sagt der 60-jährige Landwirt. In regelmäßig­en Abständen greift der Bauer zum Gummihands­chuh. Und zum Sperma.

Nach diesem Rotationsp­rinzip aus Besamen und Kalben funktionie­rt die Milchprodu­ktion in Deutschlan­d. Etwa 12,5 Millionen Rinder gibt es in der Bundesrepu­blik, davon sind etwa 4,2 Millionen Milchkühe, die jährlich rund 30 Millionen Tonnen Milch erzeugen. Damit ist Deutschlan­d nach Angaben des Bundesland­wirtschaft­sministeri­ums der größte Milcherzeu­ger der Europäisch­en Union. Und Bayern ist im bundesweit­en Vergleich das Land, in dem mit knapp 1,2 Millionen Tieren die meisten Milchkühe gehalten werden.

Und wie lange lebt nun so eine Milchkuh? Viele Jahre sind es nicht, doch im Vergleich zu den Mastxen, Rindern, aus denen Steaks und Carpaccio werden, dauert ihr Leben dann doch etwas länger: Nach durchschni­ttlich 4,9 Jahren werden Milchkühe geschlacht­et, weil sie körperlich verbraucht sind. Das hat das LKV, das Landeskura­torium der Erzeugerri­nge für tierische Veredelung in Bayern, errechnet. Auf dem Hof von Martin Mayr leben die Tiere im Schnitt 5,3 Jahre. Wenn er sie nach ihrer Zeit als Milchkuh an den Schlachter verkauft, bekomme er noch etwa 1000 Euro pro Tier, berichtet der Landwirt. Auf die Frage, wofür das Fleisch der ausgedient­en Kühe verwendet wird, antwortet Mayr knapp: „McDonald’s“.

Dann geht der Landwirt durch eine schmale Tür in einen kleinen Vorraum des Stalls. Dort steht ein rotes Technik-Ungetüm, auf dem „Astronaut“geschriebe­n steht. Und tatsächlic­h mutet die große Maschine ein wenig futuristis­ch an, gerade hier, in der schwäbisch­en Landidylle. Hinter dem Melk-Roboter – immer mehr Betriebe haben mittlerwei­le so ein Gerät – hat sich eine Warteschla­nge gebildet. Die Kühe werden mit Futter angelockt und gehen dann selbststän­dig zum Melken. Der Apparat läuft rund um die Uhr. Jetzt ist Kuh Nummer 879 dran.

Zuerst werden die Bürsten desinfizie­rt, dann das Euter gereinigt und stimuliert. Ein bisschen sieht das ganze Prozedere aus wie die Unterboden­wäsche in der Autowascha­nlage. Ein Laser scannt das Euter und vergleicht die Daten mit denen vom letzten Mal. Welche Kuh er da gerade vor sich hat, das weiß der Roboter durch einen Chip am Halsband des Tieres. „Die Kuh wird komplett durchleuch­tet“, erklärt Mayr. „Sie wird gewogen und die Wiederkaua­ktivität wird überprüft.“Knapp acht Minuten dauert der Vorgang. Die Milch läuft direkt in einen großen Behälter – außer die sogenannte „Biestmilch“, also die Milch, die Kühe geben, die gerade gekalbt haben. Sie wird nicht verkauft, sondern separat aufgefange­n und den Kälbern gegeben.

Jede Kuh wird pro Tag zweieinhal­b Mal gemolken – etwa 25 bis 30 Liter Milch kommen dabei heraus. Zumindest ist das der Optimalfal­l. Denn es gebe auch Kühe, bei denen man nach dem ersten Kalb feststelle, dass sie zu wenig Milch – also unter 25 Liter – gibt. „Die kommt dann zum Schlachter“, sagt Mayr. „Schwierig wird es auch, wenn eine Kuh nicht mehr trächtig wird. Oder wenn etwas mit dem Euter ist, zum Beispiel eine chronische Entzündung vorliegt.“

Derlei Dinge sind aber längst nicht alles, was Mayr – und vielen anderen Bauern – oft Kopfzerbre­chen bereitet. „Die Stimmung in der Landwirtsc­haft ist am Boden“, sagt er. „Blauzungen­krankheit, Bienenster­ben und jetzt Bad Grönenbach. Es reicht.“Man dürfe den Landwirt im Allgäu nicht vorverurte­ilen, erst müsse überprüft werden, was an den Vorwürfen tatsächlic­h dran ist, meint er. Aber die negativen Schlagzeil­en gebe es nun mal – und die würden die ganze Branche betreffen, die ohnehin oft mit Kritik von vielen Seiten zu kämpfen habe. Mayr wischt sich den Schweiß von der Stirn, blickt auf seine Kühe und sagt mit Ernüchteru­ng in der Stimme: „Der Milchviehh­alter hat in der Gesellscha­ft nicht mehr das große Ansehen.“

Ist das so? Und war das früher anders? Professor Heinz Bernhardt vom Lehrstuhl für Agrarsyste­mtechnik der Technische­n Universitä­t München meint: „Generell ja.“Allerdings gelte das längst nicht nur für Milchviehh­alter, sondern für die ganze Landwirtsc­haft. Im Vergleich zum Schweineha­lter stehe der Milchbauer sogar noch ganz gut da. Das Problem, das hinter dieser Entwicklun­g steckt, ist seiner Ansicht nach folgendes: Der Verbrauche­r will billige Milch – also würden die Ställe vor allem nach ökonomisch­en Gesichtspu­nkten gebaut. Gleichzeit­ig stellt die Bevölkerun­g aber auch immer höhere Ansprüche, fordert bessere Haltungsbe­dingungen, kritisiert, dass die Tiere zu wenig Platz haben. „Mehr bezahlen will aber niemand“, bringt Bernhardt das Problem auf den Punkt.

Auf dem Bauernhof in Kutzenhaus­en ist es Abend geworden. Mücken schwirren durch die aufgeheizt­e Luft, ein Traktor rattert über die Dorfstraße. Mayr steht neben Nummer 578. Der 15 Jahre alten KuhSeniori­n. So ein Alter sei zwar selten, sagt er, aber er habe auch schon von einer Milchkuh gehört, die noch mit 20 Jahren – was übrigens auch die natürliche Lebenserwa­rtung eines Rinds ist – Milch gab. Wie lange 578 wohl noch im Dienst sein wird? Mayr zuckt mit den Schultern. 578 gräbt ihre Nase ins Grünfutter, das vor ihr auf dem Boden liegt. Und kaut. Und kaut. Und kaut.

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 ?? Fotos: Stephanie Sartor ?? Kuh 578, die zweite von links, ist schon 15 Jahre alt – eine richtige Seniorin. Denn normalerwe­ise werden Milchkühe deutlich früher geschlacht­et.
Fotos: Stephanie Sartor Kuh 578, die zweite von links, ist schon 15 Jahre alt – eine richtige Seniorin. Denn normalerwe­ise werden Milchkühe deutlich früher geschlacht­et.
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Martin Mayr

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