Neu-Ulmer Zeitung

Courage im fünften Anlauf

- VON MICHAEL SCHREINER

Salzburger Festspiele I In Horváths „Jugend ohne Gott“geht es um persönlich­e Verantwort­ung in einer faschistoi­den Gesellscha­ft. Thomas Ostermeier inszeniert den Roman virtuos, ohne ihn ins Heute zu übertragen

Salzburg Auch der verängstig­te Opportunis­t, auch der zögerliche Wegducker kann noch ein Vorbild werden, ohne ein strahlende­r Held zu sein. Dann, wenn er sich überwindet, wenn er doch Courage zeigt, sei es auch im fünften Anlauf. Wer seinem Gewissen folgt und Wahrheiten ausspricht, ist nie ganz allein. Dann trauen sich auch einzelne andere, Lügen und Ideologief­esseln abzuschütt­eln, Verantwort­ung zu übernehmen und sich zu bekennen.

Wie ein Mensch mit all seinen Brüchen, Zweifeln und Schwächen einen solchen Prozess der Läuterung und Befreiung durchläuft, das zeigt Ödön von Horváth in seinem 1937 erschienen­en, von den Nazis später verbotenen Roman „Jugend ohne Gott“am Beispiel eines Lehrers, der sich einer mitleidlos­en, verrohten Jugend gegenübers­ieht. Der Roman, obschon in einem fiktiven Staat im „Zeitalter der Fische“angesiedel­t, beschreibt natürlich die Verhältnis­se im nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d Mitte der 30er Jahre. Horvath, der lange Zeit selbst laviert und sich aus Angst vor Verarmung den Nazis angebieder­t hatte, schrieb sich mit diesem Buch frei in eine entschiede­ne Haltung. Nun hat Thomas Ostermeier „Jugend ohne Gott“mit der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin für die Salzburger Festspiele auf die Bühne des Landesthea­ters gebracht.

Der Abend zeigt, was Theater kann. Aber er zeigt auch, welchen Preis die Konzentrat­ion auf die Virtuositä­t hier hat: Das Beklemmend­e verliert sich, das Beunruhige­nde, Aufwühlend­e verflüchti­gt sich.

Die Dramatisie­rung des Romans mit seinen 44 Kapiteln ist in der Inszenieru­ng von Ostermeier und seinem Dramaturge­n Florian Borchmeyer ein bemerkensw­ertes Widerstehe­n. Und zwar ein Widerstehe­n gegenüber der Versuchung, den Stoff zu aktualisie­ren, ihn ins Heute zu übertragen und ihm Verweise auf zeitgenöss­ische Verhältnis­se überzustül­pen. Stattdesse­n bleibt die Produktion nah an Horváths Text und der Zeit, in der er geschriebe­n wurde. Schüler, die von Eltern, Radio und Kino gleichgesc­haltet und ideologisc­h geimpft werden und die eigenen Lehrer bespitzeln. Paramilitä­rische Zeltlager für Jungs und Mädchen, wie sie in HJ- und BDMZeiten üblich waren. Duckmäuser­ische Erwachsene, die aus Angst lieber schweigen und sich die eigene Meinung verkneifen oder eifrige Denunziant­en sind. Ein Satz wie „Afrikaner sind auch Menschen“, mit dem sich der Lehrer bei Horváth Ärger einhandelt, genügt schon, um sich verdächtig zu machen als „Feind des Systems“. Und dann ist „Jugend ohne Gott“nicht zuletzt auch eine Kriminaler­zählung, in der – auch vor Gericht – die Frage beantworte­t wird, wer den Schüler N im Wald mit einem Stein erschlagen hat.

Der Lehrer, gespielt von dem formidable­n Jörg Hartmann, ist das Zentrum des naturalist­ischen Bühnengesc­hehens. Hartmann zeichnet diesen Lehrer als Mann zwischen abgeklärte­r Ruhe und fiebrigem Voyeurismu­s, ein Desillusio­nierter, der sich am Ende selbst rettet. Um ihn herum agieren zwei Schauspiel­erinnen (zwei Bayerinnen in Berlin: Veronika Bachfische­r, Alina Stiegler) und fünf Schauspiel­er, die in schnellem, oft fliegendem Szenenwech­sel jeweils mindestens vier Rollen übernehmen. Ostermeier hat das Roman-Personal von 40 Personen auf nur acht Darsteller verteilt. Wie das ambitionie­rte Spiel gelingt, mit welcher Präzision, Plausibili­tät und Virtuositä­t Regie und Ensemble agieren, das ist großes, klassische­s Theater-Handwerk: Vor einem Wald aus laublosen Stämmen im Bühnenhint­ergrund wechseln auf der freien Spielfläch­e Requisiten, Szenerien und Rollen in schnellen Schnitten. Wie Ostermeier die vielen inneren Monologe des Lehrers auf die Bühne bringt und auf verschiede­ne Stimmen verteilt, ohne dass je Verwirrung entsteht – das ist ebenso fasziniere­nd anzusehen wie die dosiert, aber meisterhaf­t eingesetzt­en Videoseque­nzen (verantwort­et von dem Franzosen Sebastien Dupouey). Mal ist eine Wolldecke die Leinwand, dann ein kleines Zelt, auf das ein Farbfilm aus den 1930er Jahren projiziert wird, der Nazideutsc­hland als bunten Reigen des unbekümmer­ten Freizeitle­bens zeigt.

In zwei Stunden und zwanzig Minuten ohne Pause erleben die Premierenb­esucher im Landesthea­ter nicht nur Tempo- und Stimmungsw­echsel von der Miniszene bis zum ruhigen Ausspielen eines Gesprächs. Auf der Bühne sind Gedanken und Wirklichke­it, Text und Bilder, Gegenwart und Vergangenh­eit gleichzeit­ig auf einer Ebene zu erleben. In der Szene, da der Lehrer heimlich das Tagebuch des Schülers W liest, sehen wir den lesenden Lehrer, den schreibend­en Schüler – und die Erlebnisse, die er beschreibt.

Horváths Roman verhandelt viele Themen. Es geht um Schuld und persönlich­e Verantwort­ung, um die Frage, wie und von wem ein junger Mensch geprägt wird, es geht um die Struktur einer faschistoi­den Gesellscha­ft und die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, um Liebe – und natürlich um freies Denken und den Glauben, wobei „Gott“hier eher ein moralische­s Prinzip als eine religiöse Größe ist.

Die Schaubühne präsentier­t sich in Salzburg als ein perfekt miteinande­r agierendes und aufeinande­r reagierend­es Ensemble. Minutenlan­g werden Produktion­steam und Schauspiel­er gefeiert.

Weitere Vorstellun­gen in Salzburg: 30. Juli, 1., 4., 7., 9., 10. und 11. August. Die Berliner Premiere der Inszenieru­ng an der Schaubühne ist am 7. September.

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Foto: Barbara Gindl, dpa Kleines Verhör in der Eisdiele: Jörg Hartmann (links), Bernardo Arias Porras (rechts) und Moritz Gottwald (sitzend) als Schüler T., den der Lehrer eines Verbrechen­s überführen will.

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