Runterkommen! Das ist gar nicht so einfach
Livigno Was passiert mit Büromenschen, die in den Bergen den Stress loswerden wollen? Eine ganz persönliche Berg-Geschichte, die mit Handy-Verzicht beginnt
und rechts schaut, entdeckt Pflanzen zwischen den Steinen und dem Geröll, was für eine Freude. Nur Vögel sind keine zu hören, stattdessen eine Drohne, die die morgendliche Yoga-Übung oben am Berg aus noch luftigerer Höhe festhalten soll. Das kleine Ding surrt ganz schön laut, vorne unterhält Laura sich mit den Bergführern. Wir sind in Italien, da nimmt es auch die YogaLehrerin mit ihren eigenen Übungen nicht so genau.
Aber nur so tun als ob, das ist blöd. Es ist schon verrückt, dass große Reisegruppen die sicherste Möglichkeit sind, die Aufmerksamkeit für die Umgebung gegen null zu senken. Also Sinne auf, auch am Schluss, als alle barfuß sitzen und Laura etwas vorliest: „Wenn Du ein Poet bist, wirst Du deutlich sehen, dass eine Wolke in diesem Blatt Papier schwebt. Ohne die Wolke wird es keinen Regen geben; ohne Regen können die Bäume nicht wachsen; ohne Bäume können wir kein Papier machen.“Mit den Worten des ZenMeisters Thích Nhat Hanhs möchte sie uns zeigen, dass alles mit allem zusammenhängt. Ein bisschen esoterisch klingt das jetzt schon für mich, aber wirklich widersprechen kann ich auch nicht. Wenn das alle begreifen würden, gäbe es weniger Hass auf der Welt.
Später wandern wir zurück. Wir steigen nur ein paar Meter tiefer in ein Seitental, und schon zeigt sich die Bergwelt von Livigno von ihrer verführerischsten und verschwenderischsten Seite. Weiße, gelbe, blaue und lila Tupfen auf den Wiesen, alles ist grün, der Schnee gerade geschmolzen, das große Frühlingsfest der Natur. Die Sinne sind geschärfter, die Bergwelt näher gerückt, aber wir unterhalten uns auch. Dasha, die in Zürich lebt, aus Sibirien stammt und in Deutschland aufgewachsen ist, erzählt, dass sie vor Jahren begonnen hat, zu meditieren. Spontan verabreden wir uns für den nächsten Morgen auf dem Hotelbalkon im Hochparterre, mit Blick auf die Nachbarhauswand zu meiner ersten Übung. Wenn Bene sagt, dass Livigno magisch sei, muss ich ausprobieren, ob das stimmt.
Wir sitzen im Schneidersitz, eine Smartphone-App sagt uns, was wir zu tun haben, die Hände in den Schoß legen, die Handflächen nach oben, die Augen schließen, einatmen und ausatmen, uns auf unseren Atem konzentrieren, die Gedanken kommen und gehen lassen, sobald wir merken, dass wir uns nicht mehr auf das Atmen konzentrieren. Die Zeit gerinnt dabei nicht, sie wird durchlässig. Minuten vergehen, die Kirchturmglocke läutet, irgendwo rattert etwas in Livigno, der Ort erwacht langsam. Vögel zwitschern, immer wieder muss ich mich zurückdirigieren. Und: Es fühlt sich wir das felsige Gipfelmassiv. Erst schaut der Felsblock unbesteigbar aus, von der Rückseite lässt sich aber ein Weg erahnen. Es geht auf und ab, erst auf einen Nebengipfel, dann endlich oben: 2991 Meter, höher als die Zugspitze. Bergheil!
Alle genießen den Ausblick. Da, in diesem Tal waren wir gestern. Dort hinten irgendwo im Dunst liegen Piz Bernina und Piz Palü. Kurz bevor wir gehen wollen, hat Lele einen Steinadler entdeckt, der kreist, wo wir vorher aufgestiegen sind. Und mit jeder Umdrehung gewinnt er an Höhe, kommt uns näher, nimmt die Thermik direkt über unserem Gipfel auf, was für ein Schauspiel, was für eine Eleganz. Die Schwerkraft wird aufgehoben, ein Königreich für ein Teleobjektiv!
Auf dem Abstieg erzählt Katha, wie sie sich vergangenes Jahr bei einer Skitour das Kreuzband gerissen hat, in einer Abfahrt, die sie nie machen wollte, in die sie der Bergführer genötigt hat. Und dann hat der Bergführer nur zwei Sätze mit ihr gesprochen, hat sie liegen gelassen und ausschließlich einen Landungsplatz für den Helikopter präpariert, statt ein paar Worte mit ihr zu wechseln, wo ihr es so schlecht gegangen ist. Was für eine Art! Das geht doch nicht. Oben allein lassen, das ist schlechter Himalaya-Stil.
Weil wir anfangs so langsam waren, sind wir nachmittags natürlich spät dran. Und langsam lassen die Kräfte bei einigen nach, ein Stolperer hier, ein Stolperer dort – und Katha und ich fachsimpeln darüber, dass der Abstieg immer das Schwierigste ist, wenn die Kräfte schwinden, die Konzentration nachlässt, der Gipfel als Antriebsmotiv wegfällt, wird es gefährlich. Dann kommt es zu Unfällen und Unglücken. Bene erzählt, wie wir da runterhatschen, wie anstrengend das am Matterhorn gewesen sei – mit seinem Bruder und ohne Bergführer. „Im Abstieg ist mir das Steigeisen gebrochen.“Dadurch habe alles ewig lange gedauert. Jeder Schritt musste voll konzentriert gesetzt werden.
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