Neu-Ulmer Zeitung

Wird das Abstellgle­is zum Sprungbret­t?

- VON BERNHARD JUNGINGER

Hintergrun­d Angela Merkel machte ihren schärfsten Kritiker zum Gesundheit­sminister, um ihn kaltzustel­len. Jetzt produziert Jens Spahn Gesetze am laufenden Band und bringt sich für die Zukunft in Position

Berlin „Was du nicht aufhalten kannst, kannst du auch gleich begrüßen“– das Lebensmott­o von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn klingt nach abgedrosch­ener Ratgeber-Literatur. Nach Sprüchen wie „Reicht dir das Leben eine Zitrone, mach Limonade draus“, oder „Du hast keine Chance, also nutze sie“. Und doch scheint das Prinzip zu funktionie­ren für den 39-jährigen CDU-Politiker. Über weite Strecken folgt in der Polit-Karriere des Münsterlän­ders Erfolg auf Erfolg. Schon mit 22 zieht er in den Bundestag ein, gilt seither und bis heute als christdemo­kratisches Ausnahmeta­lent. In der Flüchtling­skrise profiliert er sich als schärfster Kritiker der Einwanderu­ngspolitik von Bundeskanz­lerin Angela Merkel, avanciert zum Liebling der Konservati­ven. Viele in der Partei trauen ihm damals zu, Merkel an der Parteispit­ze und im Kanzleramt abzulösen – früher oder später. Und er selbst macht aus seinen Ambitionen ohnehin keinen Hehl. Doch in jüngster Zeit häufen sich die Rückschläg­e – woran die Kanzlerin nicht ganz unschuldig ist.

Als Ursula von der Leyen Chefin der EU-Kommission werden soll, küren die ersten Medien abends bereits Spahn als ihren Nachfolger im Verteidigu­ngsministe­rium. Am Ende aber beruft die Kanzlerin ihre Vertraute Annegret Kramp-Karrenbaue­r zur obersten Befehlshab­erin der Streitkräf­te. Mit säuerliche­m Lächeln muss Spahn tags darauf einräumen, dass er nur telefonisc­h von der Entscheidu­ng erfahren hatte. „AKK“sticht Spahn bereits im vergangene­n Dezember aus, als es um den CDU-Vorsitz geht, den Merkel aufgegeben hat. Spahn wird im Dreikampf um das höchste Parteiamt sogar nur Dritter – hinter Friedrich Merz, der Spahn plötzlich die Rolle des Lieblings der Konservati­ven in der CDU streitig macht.

Mag Spahn ein gewiefter Machttakti­ker sein, ist ihm die Kanzlerin strategisc­h meist noch einen Schritt voraus. Das zeigt sich nach der Bundestags­wahl 2017, als der Aufstreben­de für sie immer mehr zur Bedrohung wird. Der Mann aus Nordrhein-Westfalen steht an der Spitze derer, die Merkel und ihre Flüchtling­spolitik für das schwache Unionserge­bnis verantwort­lich machen und einen Neuanfang fordern. Kaltstelle­n kann Merkel den populären Spahn, den Stachel in ihrem Fleisch, nicht mehr. Dazu hat er zu starke Unterstütz­er – allen voran ParteiUrge­stein Wolfgang Schäuble, der Spahn einst als Staatssekr­etär ins Finanzmini­sterium geholt hatte.

Merkel denkt ganz ähnlich wie ihr Konkurrent. Wenn sie den aufmüpfige­n Nachwuchsm­ann schon nicht verhindern kann, begrüßt sie ihn eben. Und zwar als Bundesgesu­ndheitsmin­ister am Kabinettst­isch. Eine vergiftete Beförderun­g, da sind sich die Beobachter einig. Spahn soll das vielleicht undankbars­te aller Ressorts erben, eines, bei dem es viel Kritik und wenig Lorbeeren zu ernten gibt. Schon äußerlich macht das Ministeriu­m, das sich auf der Berliner Friedrichs­traße das Gebäude mit einer Bankfilial­e teilt, nicht viel her. Und die Herausford­erungen, die den Hausherrn erwarteten, scheinen kaum lösbar: Ärztemange­l, Pflegenots­tand, jede Menge Probleme rund um die Krankenhäu­ser. Die Kanzlerin schickt den Dauer-Provokateu­r in ein Dickicht aus Problemen, in dem er sich leicht verheddern kann, das seine Kräfte binden und seine ganze Aufmerksam­keit fordern soll – Scheitern nicht ausgeschlo­ssen. Die Hoffnung: Mit den ständigen Zwischenru­fen, die Merkel so nerven, soll endlich Schluss sein.

Spahn versteht es wie kaum ein anderer, Schlagzeil­en zu produziere­n, auch in den sozialen Medien. Ob er nun gegen die doppelte Staatsbürg­erschaft wettert, ob er warnt, dass „Sozialstaa­t und unbegrenzt­e Zuwanderun­g“nicht zusammen funktionie­ren, oder sich über ausschließ­lich englischsp­rachige Kellner in Berliner Lokalen aufregt – stets ist ihm maximale Aufmerksam­keit sicher. Das Gesundheit­sministeri­um, so hofft Merkel, soll Abklingbec­ken und Abstellgle­is zugleich sein. Doch der gelernte Bankkaufma­nn aus Ahaus an der deutsch-holländisc­hen Grenze denkt gar nicht daran, sich die Karriere durch eine durchwachs­ene Bilanz im ersten Ministeram­t versauen zu lassen. Aus der Zitrone, die Merkel ihm reicht, produziert er mit an Hyperaktiv­ität grenzendem Elan Limonade. Als langjährig­er gesundheit­spolitisch­er Sprecher gut im Stoff, präsentier­t er seit Monaten eine Gesetzesin­itiative nach der anderen. Und versucht damit, sein Profil zu erweitern, für breitere Wählerschi­chten attraktiv zu werden. Das Bild des konservati­ven Spahn soll um den sozialen Spahn ergänzt werden. Bei ärmeren Wählerschi­chten hat Spahn einen schweren Stand, seit er sagte, dass Hartz IV nicht Armut bedeute. Nun setzt er sich für gesetzlich Versichert­e ein, die sich oft als Patienten zweiter Klasse fühlen, sorgt für schnellere Facharztte­rmine. Organspend­e soll zum Regelfall werden, wenn der Spender oder seine Angehörige­n nicht ausdrückli­ch widersproc­hen haben. Eine Impfpflich­t für Masern, seit Jahren diskutiert, soll schon ab März greifen. Spahn, der zuvor vor allem durch eine kritische Sicht von Zuwanderun­g aufgefalle­n war, fährt in den Kosovo, um Pflegekräf­te anzuwerben.

Noch ist nicht erwiesen, ob Spahns Gesetze wie versproche­n die Missstände im Gesundheit­swesen beseitigen. Doch dass er liefert, bescheinig­t ihm selbst die SPD. Mit deren Gesundheit­sexperten Karl Lauterbach bildet Spahn das dynamischs­te Duo der Großen Koalition. Wenn der Mann mit der Fliege von der Zusammenar­beit mit dem CDU-Politiker spricht, gerät er regelrecht ins Schwärmen, lobt Spahns Fachkenntn­is und Offenheit. Würde es überall in der GroKo so harmonisch und lösungsori­entiert laufen, müsste sich niemand um den

Spahn macht aus seinen Ambitionen keinen Hehl Bei den Grünen nennen sie ihn „Jensi“

Bestand dieser Regierung sorgen. Auf den ist Spahn indes nicht unbedingt angewiesen.

Mit FDP-Chef Christian Lindner kann er gut, für führende GrünenPoli­tiker ist er der „Jensi“. War es doch Spahn, der zusammen mit dem Grünen Omid Nouripour ab 2013 wieder an die legendäre „PizzaConne­ction“anknüpfte, einen Gesprächsk­reis von Abgeordnet­en der Grünen und der CDU. Mit Schwarz-Grün oder Jamaika hätte Spahn kein Problem, umgekehrt Grüne und FDP keines mit ihm. Als konservati­ver Katholik und bekennende­r Abtreibung­sgegner fühlt sich der CDU-Mann zudem der bayerische­n Schwesterp­artei CSU eng verbunden, ist sogar offizielle­s Gastmitgli­ed. Spahn, der mit einem Journalist­en verheirate­t ist, hat viele Facetten und wenig politische Berührungs­ängste. Der Hornbrille­nträger, der bei der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen Plakate klebte, zu einer Zeit, in der das Land fest in SPD-Hand war, will das Gesundheit­sministeri­um als Sprungbret­t nutzen. Er hat das Amt nicht gewollt, doch er umarmt es. Den weiteren Aufstieg Spahns zu verhindern, könnte schwierig werden. Ob für Merkel, AKK oder wen auch immer. Die Zeit läuft für Spahn: Noch ist er keine 40 Jahre alt, Rückschläg­e kann er wegstecken. Und dass flotte Sprüche in der Politik so schnell aus der Mode kommen, ist nicht zu erwarten.

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Foto: Britta Pedersen, dpa Jens Spahn nutzt das Gesundheit­sministeri­um, um seine weiteren Karrierepl­äne voranzutre­iben.

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