Neu-Ulmer Zeitung

Grasende Rinder und rasende Autos

- VON STEFFI LORENZ

Serie (1) Die Idee von Joe Engelhardt ist einzigarti­g: An der A8 sind schottisch­e Hochlandri­nder als Rasenmäher und Naturschüt­zer im Einsatz. Warum er sich gegen Schafe entschied und wie die Tiere mit Lärm und Abgasen klarkommen

Dasing Gille steht da. Fliegen schwirren um sein Gesicht, Regen nieselt auf seinen Rücken. Der Bulle wirkt wie ein schwarzer Fels, wuchtig und dunkel, umgeben vom Grün der Wiese. Den sechs Spuren der Autobahn A8 hat er sein Hinterteil hingedreht. Es rauscht. Mal leiser, wenn nur Autos vorbeifahr­en, mal lauter, wenn ein Lkw vorbeibrau­st. Auch viele Wohnwagen sind unterwegs. Wo sie wohl herkommen? Wo sie hinwollen? Gille jedenfalls kommt aus Schottland. Enden wird seine Reise beim Schlachter. Dazwischen liegt ein Rinderlebe­n als Naturschüt­zer an der Autobahn.

Wie kam es dazu? Zwischen 2007 und 2010 wurde die A8 zwischen München bis Augsburg von vier auf sechs Spuren erweitert. Weil man in die Natur eingriff, kaufte der Bund Ausgleichs­flächen. Landwirtsc­haftlich intensiv genutzt werden dürfen sie nicht. Man habe die Flächen also begrünt und so naturnah als möglich belassen, erklärt Hermann Wenzel, Geschäftsf­ührer der privaten Betreiberf­irma Autobahnpl­us. Trotzdem muss man das Grün zurückschn­eiden. Das sollten Tiere statt Maschinen übernehmen, denn das ist gut für die Natur – nachhaltig. Ein Beweidungs­projekt wurde ausgeschri­eben, Joe Engelhardt und seine schottisch­en Hochlandri­nder erhielten den Zuschlag. 2011 startete das Weideproje­kt.

Das ganze Jahr über grasen die Tiere nun an der A 8 auf den 52 Kilometern zwischen dem Dreieck Allach und Augsburg-West. Die Weidefläch­en gibt Wenzel mit etwa 150 Hektar an. Das sind etwa 210 Fußballfel­der – doppelt so viel, wie der Asphalt einnimmt. Joe Engelhardt hat trotzdem den Überblick, kennt alle seine Tiere, 205 sind es. Im Sommer teilt er sie in bis zu 20 Gruppen ein, zwei oder drei Mal pro Woche ziehen sie um. Stinknorma­le Logistik sei das, sagt der 59-Jährige mit den kurzen, grau melierten Haaren und einem kleinen silbernen Ring im linken Ohrläppche­n. Er verlädt die Tiere und bringt sie zur nächsten Weide, zur nächsten „Woad“, wie er in niederbaye­rischem Dialekt sagt. Engelhardt kommt aus Gangkofen bei Landshut. Er spricht anschaulic­h, ruhig, lächelt breit und oft verschmitz­t.

Gerade sieht er nach einer Gruppe Bullen bei Dasing. Täglich besuchen er und seine Kollegen, angestellt bei der Öko-Firma Benugo in Oberhachin­g, die Rinder. „Wer Cowboys in Marlboro-Manier erwartet, den muss ich enttäusche­n“,

Engelhardt: 90 Prozent der Arbeit sei Zäune auf- und abbauen. Er übertreibt etwas, später gibt er zu: „Des is a bissl mehr, als Zaun rum und Tiere reinschmei­ßen.“Er trägt Jeans und Poloshirt und statt in Cowboystie­fel schlüpft er in grüne aus Gummi. Statt eines Lassos hält er eine Tüte getrocknet­er Semmeln und einen Striegel. Die Gräser rascheln unter seinen Schuhen, als er über die feuchte Wiese stapft, im Hintergrun­d das Dauerrausc­hen der vorbeisaus­enden Fahrzeuge. Konzentrie­rt man sich, hört man es zirpen. Reiher und Stockenten fliegen auf, ein Frosch hüpft durchs Gras. Kuhfladen bedecken wie kleine, braune Pfützen den Boden.

Sie sind Heimat für Insekten und Würmer. Und nicht nur so sorgen die Rinder für Artenvielf­alt.

Engelhardt zeigt auf lange Stängel mit dunkelrote­n Blütenköpf­chen. Wiesenknop­f heißt die Pflanze. Sie ist Nahrungsqu­elle und Paarungspl­atz für den Dunklen Wiesenknop­f-Ameisenblä­uling, einen Schmetterl­ing, der vor allem in Deutschlan­d vorkommt: „Wenn er hier ausstirbt, ist er weltweit fast ausgestorb­en.“Was das mit den Rindern zu tun hat? Sie fressen die Wiese von November bis Mai „tabula rasa“. Das ist gut für bestimmte Ameisen, die wiederum die Raupen des Schmetterl­ings füttern, bis sie sich verpuppen. Dafür ist das Sekret der Raupen „das Kokain für die Ameisen“– das törne sie an.

Die Rinder helfen, Lebensräum­e zu erhalten. Selbst seine artenärmst­e Fläche sei artenreich­er als andere Wiesen, sagt der Rinderzüch­ter. Das Beweidungs­prosagt jekt sei einzigarti­g. Andernorts setzt man auf Schafe, doch die trampeln laut Engelhardt die Wiesen zusammen. Rinder fressen sauberer ab, erst die Gräser, dann die Blüten.

Schon vor 30 Jahren war der Regionalen­twickler auf die Tiere gestoßen, als er begann, Saatgut aus Naturschut­zgebieten zu gewinnen und Ausgleichs­flächen zu begrünen. Was übrig blieb, verfüttert­e er. Dabei merkte er, dass Hochlandri­nder die genügsamst­e Rasse und die besten Verwerter sind. Und deren natürliche­s Herdenverh­alten zu beobachten, sei gigantisch, schwärmt er.

Begibt er sich zu ihnen, meidet er Konkurrenz­situatione­n. Menschen meinen oft, sie müssten die Ranghöchst­en sein. „Aber ich habe keine Hörner und keine 500 Kilo.“Er sei eher ein „positiv besetztes Weideacces­soire“, bringe Leckerli und Streichele­inheiten. Nur einmal im Leben müsse er ihr Vertrauen missbrauch­en, sagt er mit etwas Schmerz in der Stimme. Wenn es zum Schlachter geht. Das tut ihm dann schon leid. Aber so ist das eben. Immerhin werden seine Tiere bis zu 14 Jahre alt, eine Milchkuh im Stall sechs. Er beginnt, Gille zu striegeln, dessen Rücken ihm bis zur Brust reicht. Der Zuchtbulle ist ein Originalim­port aus Schottland, Jahrgang 2009. Sein Name bedeutet auf Gälisch „Junge“. Eine Tonne wiegt er. Die 40-Tonner im Hintergrun­d beeindruck­en ihn nicht. Die Tiere weichen dem Lärm nicht aus, hat Engelhardt beobachtet. Und die Schadstoff­e verteilten sich in der Luft, egal ob fünf oder 500 Kilometer weg, sagt er. Regelmäßig untersucht er seine Rinder, die anfangs manche Autofahrer irritierte­n. Es gab besorgte Anrufe: „Da stehen Rinder auf der Straße“, erzählt Hermann Wenzel von Autobahnpl­us, aber das habe sich schnell eingespiel­t. Jetzt sei es eher so: „Alle wollen die Rinder sehen.“

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Joe Engelhardt, 59, ist der Mann, der die über 200 schottisch­en Hochlandri­nder an der Autobahn A 8 betreut. Die Tiere sind als lebende Rasenmäher das ganze Jahr im Einsatz. Und das Beweidungs­projekt leistet seit 2011 auch einen wichtigen Beitrag zum Naturschut­z.
Foto: Silvio Wyszengrad Joe Engelhardt, 59, ist der Mann, der die über 200 schottisch­en Hochlandri­nder an der Autobahn A 8 betreut. Die Tiere sind als lebende Rasenmäher das ganze Jahr im Einsatz. Und das Beweidungs­projekt leistet seit 2011 auch einen wichtigen Beitrag zum Naturschut­z.
 ?? Foto: Kilian Weixler ?? Der seltene Wiesenknop­f-Ameisenblä­uling profitiert von dem Weideproje­kt.
Foto: Kilian Weixler Der seltene Wiesenknop­f-Ameisenblä­uling profitiert von dem Weideproje­kt.
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