Neu-Ulmer Zeitung

Viele Regionen verlieren den Anschluss

- VON STEFAN LANGE UND BERNHARD JUNGINGER

Studie Das Institut der deutschen Wirtschaft warnt vor wachsender Ungleichhe­it. Sorgen macht längst nicht mehr nur der Osten. Wo es auch im Westen im Argen liegt

Berlin Droht auch in Deutschlan­d eine Spaltung zwischen städtische­n Eliten und den Bewohnern ländlicher Regionen? Werden bald auch hierzuland­e die „Abgehängte­n“aus der „Provinz“ihrem Ärger auf den Straßen Luft machen wie die Gelbwesten in Frankreich? Gilt rund 30 Jahre nach dem Fall der Mauer noch die These: Armer Osten, reicher Westen? Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) versucht in einer neuen Studie Antworten auf diese Fragen zu geben. Das Ergebnis: Jede fünfte deutsche Region droht den Anschluss zu verlieren, das deutsche Erfolgsmod­ell, das auf Dezentrali­tät setzt, ist in Gefahr.

Unter insgesamt 96 deutschen Regionen haben die Forscher 19 besonders betroffene Problemreg­ionen ausgemacht. Und längst nicht alle liegen in den neuen Bundesländ­ern oder im ländlichen Raum. Bedroht sind auch vier Regionen in Nordrhein-Westfalen entlang der Ruhr sowie Bremerhave­n, das Saarland, Schleswig-Holstein Ost und die Westpfalz. Was die Studie auch zeigt: Den Menschen im Süden, in Bayern oder Baden-Württember­g etwa, geht es besser als denen im Norden der Republik.

Die Autoren der Studie haben verschiede­ne Kennzahlen in den Bereichen Wirtschaft, Demografie und Infrastruk­tur ausgewerte­t. Mit Blick auf die Wirtschaft liegen die Schlusslic­hter erstaunlic­herweise im Westen der Republik. Besonders düster sieht es in Duisburg sowie Essen, der Emscher-Lippe-Region mit der Stadt Gelsenkirc­hen sowie in Bremerhave­n aus. Der Grund, so Jens Südekum, Mitautor der Studie, von der Universitä­t Düsseldorf: „nie bewältigte­r Strukturwa­ndel“. Seinen Angaben zufolge hat Ostdeutsch­land vor allem ein Demografie-Problem. Anhalt-Bitterfeld­Wittenberg, Lausitz-Spreewald, Oberlausit­z-Niederschl­esien sowie Ost- und Südthüring­en weisen demnach ein hohes Durchschni­ttsalter der Bevölkerun­g auf, das in den vergangene­n Jahren auch noch überpropor­tional gestiegen ist. Seit der Wende hat der Osten eine runde Million Menschen verloren. Erst seit kurzem, so Südekum, kehrten Menschen in die neuen Bundesländ­er zurück, oft Rentner, aber auch junge Familien.

Bei der Infrastruk­tur gibt es derweil deutschlan­dweit Probleme. Die drei westdeutsc­hen Regionen Emscher-Lippe, Trier und Westpfalz plagen besonders hohe Verschuldu­ngsquoten. In den ostdeutsch­en Regionen Altmark, Magdeburg und Halle/Saale steckt hingegen die digitale Infrastruk­tur noch in den Kinderschu­hen, so die Studie.

IW-Chef Michael Hüther sieht in den 19 besonders betroffene­n Regionen akuten Handlungsb­edarf. Wenn die Politik nicht energisch gegensteue­re, würden sie den Anschluss an den Rest des Landes verlieren. Noch klafft seiner Einschätzu­ng nach in der Bundesrepu­blik die Schere zwischen den Regionen nicht so weit auseinande­r wie in den USA oder Großbritan­nien. Doch die „Superstar-Firmen der Digitalisi­erung werden sich in Metropolen wie München oder Berlin ansiedeln“, glauben die Autoren. In den Großstädte­n wachse dadurch die Wohnungsno­t, auf dem Land drohe noch mehr Leerstand.

Helfen kann den Experten zufolge vor allem der Griff zum Scheckbuch. Hüther schlägt Schuldener­lasse für die betroffene­n Kommunen vor. Für Co-Autor Südekum sollte „kluge Regionalpo­litik den Kommunen die Möglichkei­t geben, sich selbst zu helfen“. Aber auch Bund und Länder seien in der Verantwort­ung. Gleichzeit­ig weisen die Studienaut­oren aber auch darauf hin, dass die genannten Problem-Regionen zum Teil seit Jahrzehnte­n gefördert werden. Von der Politik sei also kein „Gießkannen­ansatz“gefordert.

Weitere Stellschra­uben sehen die Wissenscha­ftler darin, bürgerscha­ftliches Engagement besser zu unterstütz­en und zu vereinfach­en, Bildungsan­gebote in den betroffene­n Regionen zu verbessern und das Netz – sowohl in Form von Schienen als auch von Breitbandi­nternet auszubauen. „Die Regionalpo­litik muss jetzt dringend gegensteue­rn, sonst werden die gesellscha­ftlichen Spannungen zunehmen und es kann zu gefährlich­en Abwärtsspi­ralen kommen“, warnt Hüther.

Es kriselt von der Westpfalz bis in die Oberlausit­z

 ?? Foto: Carmen Jaspersen, dpa ?? Die Gaststätte ist geschlosse­n, die Schaufenst­erscheibe eingeschla­gen und an der Tür blättert der Lack ab: Eine Straßeneck­e in Bremerhave­n steht hier symbolisch für Städte und Regionen, die in Deutschlan­d abgehängt sind und mit großen Strukturpr­oblemen zu kämpfen haben.
Foto: Carmen Jaspersen, dpa Die Gaststätte ist geschlosse­n, die Schaufenst­erscheibe eingeschla­gen und an der Tür blättert der Lack ab: Eine Straßeneck­e in Bremerhave­n steht hier symbolisch für Städte und Regionen, die in Deutschlan­d abgehängt sind und mit großen Strukturpr­oblemen zu kämpfen haben.

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