Neu-Ulmer Zeitung

Ein Welterklär­er, legendär und auch prekär

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

100. Todestag Noch heute erstaunen die Leistungen von Ernst Haeckel, machen viele Konflikte, die er ausgelöst hat, nachdenkli­ch – und bestürzen manche seiner Ansichten. Aber hat der Forscher auch noch eine Botschaft?

Wenn ein Buch so schlicht wie größtmögli­ch „Die Welträtsel“heißt und auch noch nichts Geringeres verheißt als diese im Grunde zu lösen – wer würde dem heute noch glauben, wer würde so was noch kaufen? Vielleicht all die Millionen weltweit, die auch zum kurz nach dessen Tod erschienen­en Buch des Star-Physikers Stephen Hawking gegriffen haben: „Kurze Antworten auf große Fragen“?

Die Verbindung von fachspezif­ischem Starwissen­schaftler und öffentlich­em Wissenscha­ftsstar jedenfalls weckt bis heute die Hoffnung, hier könnte sich ein Genie gerade darin beweisen, dass es die ewige Erkenntnis in all ihrer Komplexitä­t für jeden verständli­ch auszudrück­en vermag – und dass es dabei tatsächlic­h um die Wahrheit und nicht bloß ums Geschäft geht. „Die Welträtsel“jedenfalls gilt bis heute als „größter populärwis­senschaftl­icher Erfolg der deutschen Buchgeschi­chte“. Es erschien 1899 und fand in der deutschen wie in der englischen Ausgabe jeweils hunderttau­sende begeistert­e Leser und wurde zudem in 23 weitere Sprachen übersetzt.

Ja, dessen heute vor 100 Jahren, am 9. August 1919, gestorbene­r Autor war ein Starwissen­schaftler und ein Wissenscha­ftsstar – entflammt durch einen anderen. Ernst Haeckel stürzte sich mit derartiger Hingabe und Überzeugun­g auf die Fortführun­g und Vertiefung von Charles Darwins 1859 veröffentl­ichter Evolutions­theorie, dass er früh vom Mediziner umsattelte und bereits mit 28 Jahren Professor der Zoologie in Jena wurde. Die Tierkunde war damals ja noch in der philosophi­schen Fakultät angesiedel­t, also noch keine von der Geisteswis­senschaft geschieden­e Naturwisse­nschaft. Und das wiederum passte exakt zu Haeckels Ansatz.

Denn der kunstinter­essierte Forscher wurde zwar über seine Zeit hinaus auch dafür bekannt, dass er die Organismen, die er auf seinen vielen Reisen in alle Welt erforschte, selbst in großer Exaktheit und jugendstil­vollendter Schönheit zu malen verstand, Strahlenti­erchen etwa und Kalkschwäm­me. Aber vor allem sorgte er für Aufsehen in Fachkreise­n und Öffentlich­keit als Vordenker des Monismus und den daraus gewonnenen Antworten auf die großen Fragen des Lebens.

Für den Monisten sind Geist und Materie nicht zu trennen, sie sind dasselbe: Das Geistige durchdring­t alles Materielle und zeigt sich als Ordnung in den ewigen Naturgeset­zen in einem Universum, das ewig da und nie erschaffen worden war. Das bedeutete für den ursprüngli­ch aus christlich­em Haus stammenden Haeckel: Einen Schöpfergo­tt kann es nicht geben, eine Seele über den leiblichen Tod hinaus gibt es nicht – und auch die Annahme einer Willensfre­iheit des Menschen beruhe „als reines Dogma auf bloßer Täuschung“und „existiere in Wirklichke­it gar nicht“.

Aus diesem ganzheitli­chen Blick auf die Natur und die evolutionä­re Entwicklun­g ihrer Arten prägt Ernst Haeckel auch einen heute hoch in Konjunktur stehenden Begriff neu: den der Ökologie´– um damit den Teil der Biologie zu der sich mit den Wechselbez­iehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt beschäftig­t. Er schreibt: „Der Darwinismu­s lehrt uns, dass wir zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugetiere abstammen, und dass diese ‚unsere Brüder‘ sind; die Physiologi­e beweist uns, dass diese Tiere dieselben Nerven und Sinnesorga­ne haben wie wir, dass sie ähnlich Lust und Schmerz empfinden wie wir. Kein mitfühlend­er monistisch­er Naturforsc­her wird sich jemals jener rohen Misshandlu­ngen der Tiere schuldig machen, der der gläubige Christ in seinem anthropois­tischen Größenwahn – als ‚Kind des Gottes der Liebe!‘ – gedankenlo­s begeht.“

So zeitgemäß das heute wirken mag, in Haeckels Zeit brachte ihm das freilich mächtige Konflikte ein. Zumal er auch noch dafür warb, dass auch die Evolutions­theorie in den Schulen Preußens gelehrt werden müsse. Er wurde von Vertretern und Anhängern des christlich­en Glaubens angefeinde­t und hatte auch mächtige Gegner unter Kollegen. Was bald dazu führte, dass Biologie sogar ganz von den Lehrplänen gestrichen wurde.

Hatte er hier Mensch und Natur auf für viele verstörend­e Weise zu einen versucht – die Lehren, mit denen Haeckel wiederum unter den Menschen Trennungen sah, brachte ihm in der Folge auch gefährlich­e Anhänger ein. Haeckel nämlich unkennzeic­hnen, terschied in seiner „Natürliche­n Schöpfungs­geschichte“auch „Menschenra­ssen“, und die „wollhaarig­e“etwa stünde im Vergleich zur „schlichtha­arigen“dem Affen noch viel näher, die „indogerman­ische“Rasse habe „alle übrigen Menschenra­ssen in geistiger Entwicklun­g mehrfach überflügel­t“– die „übrigen Rassen“würden den „übermächti­gen Mittelländ­ern im Kampf ums Dasein früher oder später gänzlich erliegen“. Und zugunsten der Menschheit­sentwicklu­ng sah er zudem den schonenden Umgang mit Schwächere­n als Hemmnis an, Lebensmüde sollte man demnach mit deren Einwilligu­ng sterben lassen, Behinderte auch gegen ihren Willen töten – und das, obwohl eines seiner eigenen Kinder behindert war. Die Rassenideo­logen und die Euthanasie­befürworte­r bis hin zu den Nazis lasen das freilich gern.

Dabei wollte sich Haeckel in all dem nie praktisch, nie politisch äußern. Aber woher mit diesem rigorosen Naturalism­us noch eine Moral gewinnen, die das menschlich­e Leben abseits des reinen Nutzens auch in solchen Fragen in den Blick bekam? Der zwischenze­itlich mit Darwin befreundet­e und trotz zahlreiche­r Abwerbever­suchen bis zu seinem Tod in Jena lebende Haeckel entwickelt­e tatsächlic­h eine monistisch­e Ethik – und zwar aus natürliche­n Trieben, die bei „den höheren Säugetiere­n“ohnehin anzutreffe­n sei. Es gelte eine Harmonie herzustell­en zwischen den egoistisch­en Trieben, die der Gattung nichts bringen, und den altruistis­chen Trieben, die dem Einzelnen nichts bringen – die beide aber gleich legitim seien. Und da immerhin sah er eine Übereinsti­mmung mit der Goldenen Regel des Christentu­ms: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.“Aber steht das nicht in eklatantem Widerspruc­h zum Vorherigen?

Für Ernst Haeckel jedenfalls war noch klar: Die Naturwisse­nschaft würde in absehbarer Zeit alle Rätsel lösen und auch der Philosophi­e den Weg weisen. Die Botschaft für heute muss vielleicht gerade in die entgegenge­setzte Richtung weisen: Das naturwisse­nschaftlic­he Forschen, das längst nicht alles geklärt hat, kann dem Menschen wertvolle Erkenntnis­se über sich und die Welt liefern. Aber die Fragen der Menschlich­keit müssen Aufgabe des Denkens bleiben.

Ernst Haeckel: Die Welträtsel.

Neu herausgege­ben von Michael Quante. Kröner, 475 S., 24,90 ¤

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Foto: Nicola Perscheid, picture alliance Der Evolutions­forscher: Ernst Haeckel (1834–1919) mit Menschensc­hädel und Affenskele­tt.

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