Latein ist wichtiger denn je
Schön, dass der Tag mit Johannes Kahrs beginnt. Nachdem sich der Interviewer des
bei ihm bedankt, sagt der Politiker höflich: „Immer gerne.“Ein konservativer Sozialdemokrat mit Manieren hat was für sich. Er vermeidet alles Krawallige. Als der Fragesteller versucht, ihn doch zu einer deftigeren Aussage zu provozieren, indem er wissen will, ob alle Pärchen wie Ralf Stegner und Gesine Schwan, die sich für den SPDVorsitz bewerben, dafür geeignet seien, meint Kahrs: Am Ende müsse solch ein Team die nötige „Gravitas“, also Stärke und Kraft, haben.
Kahrs entledigt sich des Themas elegant als Lateinkundiger. Er verkneift sich also die Einschätzung, das Duo Stegner/Schwan sei zweitklassig und ungeeignet, auch wenn sich der Politiker das denken mag.
Solch vornehme Gesten sind wohltuend in unserer Beschimpfungsund Unterstellungs-Republik, die bevölkert wirkt von vielen Aggro-Trumps, die im Schutz digitaler Anonymität Menschen sofort Unfähigkeit unterstellen, um sie dann ausgiebig zu beleidigen. Es scheint so, als ob hier vor allem Männer (und wohl tendenziell mittelalte bis ältere) sich auf aggressiven Verbal-Abwegen befinden. Eine E-Mail ist schnell geschrieben. Das Verfassen eines Briefes erforderte früher mehr an Reflexion.
Politiker und Journalisten können da einiges von ihnen immer wieder entgegengebrachter Antipathie berichten. Anstand ist leider ein Auslaufmodell.
Die Verrohung der Sitten erfasst im wahren Leben selbst Informanten, eigentlich Verbündete der Journalisten, die ihnen Wissenswertes zukommen lassen. Doch auch hier geht es ruppiger zu. Auf die freundlich vorgetragene Bitte, etwas mehr Details über einen Sachverhalt zu verraten, kommt schon mal die Antwort: „Recherchieren Sie gründlicher, dann kommen Sie selbst drauf!“Jeder Satz eine Unterstellung. In den 90er Jahren, als Informantengespräche telefonisch oder von Angesicht zu Angesicht an einem unverfänglichen Ort geführt wurden, ging es höflicher zu.
Zum Glück gibt es in unserer trumpistischen Aggro-Ära Refugien wie den und Männer wie Kahrs, die nicht alles, was sie denken, gleich ungezügelt rausbrüllen. Und am Ende scheint im Online-Zeitalter das Erlernen der lateinischen Sprache pädagogisch sinnvoller denn je zu sein.