Neu-Ulmer Zeitung

Latein ist wichtiger denn je

- VON STEFAN STAHL

Schön, dass der Tag mit Johannes Kahrs beginnt. Nachdem sich der Interviewe­r des

bei ihm bedankt, sagt der Politiker höflich: „Immer gerne.“Ein konservati­ver Sozialdemo­krat mit Manieren hat was für sich. Er vermeidet alles Krawallige. Als der Fragestell­er versucht, ihn doch zu einer deftigeren Aussage zu provoziere­n, indem er wissen will, ob alle Pärchen wie Ralf Stegner und Gesine Schwan, die sich für den SPDVorsitz bewerben, dafür geeignet seien, meint Kahrs: Am Ende müsse solch ein Team die nötige „Gravitas“, also Stärke und Kraft, haben.

Kahrs entledigt sich des Themas elegant als Lateinkund­iger. Er verkneift sich also die Einschätzu­ng, das Duo Stegner/Schwan sei zweitklass­ig und ungeeignet, auch wenn sich der Politiker das denken mag.

Solch vornehme Gesten sind wohltuend in unserer Beschimpfu­ngsund Unterstell­ungs-Republik, die bevölkert wirkt von vielen Aggro-Trumps, die im Schutz digitaler Anonymität Menschen sofort Unfähigkei­t unterstell­en, um sie dann ausgiebig zu beleidigen. Es scheint so, als ob hier vor allem Männer (und wohl tendenziel­l mittelalte bis ältere) sich auf aggressive­n Verbal-Abwegen befinden. Eine E-Mail ist schnell geschriebe­n. Das Verfassen eines Briefes erforderte früher mehr an Reflexion.

Politiker und Journalist­en können da einiges von ihnen immer wieder entgegenge­brachter Antipathie berichten. Anstand ist leider ein Auslaufmod­ell.

Die Verrohung der Sitten erfasst im wahren Leben selbst Informante­n, eigentlich Verbündete der Journalist­en, die ihnen Wissenswer­tes zukommen lassen. Doch auch hier geht es ruppiger zu. Auf die freundlich vorgetrage­ne Bitte, etwas mehr Details über einen Sachverhal­t zu verraten, kommt schon mal die Antwort: „Recherchie­ren Sie gründliche­r, dann kommen Sie selbst drauf!“Jeder Satz eine Unterstell­ung. In den 90er Jahren, als Informante­ngespräche telefonisc­h oder von Angesicht zu Angesicht an einem unverfängl­ichen Ort geführt wurden, ging es höflicher zu.

Zum Glück gibt es in unserer trumpistis­chen Aggro-Ära Refugien wie den und Männer wie Kahrs, die nicht alles, was sie denken, gleich ungezügelt rausbrülle­n. Und am Ende scheint im Online-Zeitalter das Erlernen der lateinisch­en Sprache pädagogisc­h sinnvoller denn je zu sein.

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