Erst der Rummel, dann die Leere
Premiere Franz Molnárs Theaterklassiker „Liliom“kommt bei den Salzburger Festspielen mit einem beeindruckenden Reigen an Bildern auf die Bühne. Die Stars sind zwei Industrieroboter, trotzdem fehlt dieser Inszenierung etwas
Salzburg Zwei Stunden auf dem Rummelplatz gewesen. Leuchtender Budenzauber, Musik und Geschrei, schön herumgeschleudert worden. Es konnte einem schwindlig werden. Gestaunt über Kunststücke und tolle Tricks, bisschen Kitsch darf ja sein. Es gab sogar Roboterarme, die den Vollmond vom Himmel holten, und ein Planschbecken, in dem sie herumtobten. Erhitzte Menschen und verrückte Typen gesehen, Draufgänger und schöne Frauen, immer alle in Bewegung. Es lag was in der Luft … Alle wollten sich amüsieren, manchmal flogen die Fäuste, es gibt solche unverbesserlichen Kerle. Am nächsten Morgen leicht verkatert aufgewacht.
Erkenntnisgewinn? Ein Déjà-vu. Theater ist bildmächtig anzusehen – aber hinter der Illustration fehlt dann oft eine schlüssige, zwingende Erzählung. Für die Salzburger Festspiele hat Kornél Mundruczó mit dem Thalia Theater Hamburg das 110 Jahre alte Stück „Liliom“seines ungarischen Landsmanns Ferenc Molnár auf die Bühne gebracht. Seine Inszenierung verliert sich in expressiver Ratlosigkeit in der zweistündigen Premiere auf der Pernerinsel in Hallein.
„Liliom“ist ein Bühnenklassiker, seit einem Jahrhundert weltweit gespielt. 1909 zunächst ohne Erfolg in Budapest uraufgeführt, wurde das Drama ab 1913 über die deutschsprachige Fassung von Alfred Polgar, ausgehend von Wiener Bühnen, ein Welterfolg – wohl auch, weil Polgar die Handlung vom Budapester Stadtwäldchen in den Wiener Prater verlegte. Bei Mundruczó bleibt der Ort unbestimmt. Er wollte bei seiner Salzburg-Premiere die tückische Wien-Falle umgehen, sagte er vorab.
Liliom ist ein Rummelplatzgehilfe, ein Draufgänger, Raufbold, Hallodri. Er arbeitet für die Karussellbesitzerin Frau Muskat und ist deren Liebhaber. Als sich Liliom auf dem Rummel in das Dienstmädchen Julie verliebt, fliegt er raus. Liliom und Julie ziehen zu einer Fotografin in eine Bretterbude. Geld fehlt, er schlägt sie, säuft, arbeitet nichts. Traum? Vielleicht mit dem Dampfer nach Amerika. Julie erwartet ein Kind, Liliom will mit einem Raubüberfall für bessere Verhältnisse sorgen. Der Überfall scheitert, Liliom bringt sich um und schmort zur Läuterung 16 Jahre im Fegefeuer, bis er die Chance erhält, für einen Tag zurück ins Leben zu gehen und seine Tochter Luise zu sehen.
Liliom ist ein Typ, der alle #MeToo-Anklagen unserer Tage verkörpert. Impulsiv, gewalttätig, rücksichtslos. Er fragt nicht, sondern nimmt. Er stürzt sich auf die Frauen, er schlägt zu – ein Instinktmensch, der seine Gefühle auslebt, aber nicht versteht. „Du bleibst hier und ich hol’ Bier“, sagt er zu Julie, als er sie kennengelernt hat. Aktion geht vor Reflexion. Ein vitaler, auch charmanter Überlebenskünstler. Jörg Pohl spielt ihn irgendwie BenBecker-artig als einen ruhelosen Berserker und Proleten, der sich keiner Schuld bewusst ist. Er küsst, rauft, brüllt und rennt durch sein Leben, als müsse er es unermüdlich anschieben wie ein Karussell, das nicht stehenbleiben darf, weil sonst die Lichter ausgehen. Jede Begegnung mit anderen ist für Liliom eine Art Kampf.
Kornél Mundruczó, der nicht nur am Theater arbeitet, sondern auch als Filmregisseur erfolgreich ist, zieht Molnárs Stück als Rückschau Lilioms auf sein Leben auf. Die Inszenierung beginnt mit dem toten Liliom, der sich in einem kafkaesken Läuterungs-Jenseits rechtfertigen muss für seine Untaten. Mundruczó verlegt das Fegefeuer in unsere Zeit und betraut eine schräge MultikultiTruppe mit der Aufgabe, Liliom zur Einsicht zu bringen in sein Fehlverhalten aus einer anderen Zeit. Da muss der Typ, der sich impulsiv an Frauen vergreift, hundertmal „Ich bin Teil des repressiven Patriarchats“an die Wand schreiben, AntiAggressionstraining machen oder Formulare der Good-Will-Selbsterkenntnis ausfüllen, während seine Aufklärer sich Eis essend oder als Transgenderballett die Zeit in diesem trashigen Jüngsten Gericht vertreiben. Die Autorin Kata Wéber hat die Zwischentexte für diese Szenen beigesteuert. Viel schaler Humor. Klischees überlagern die verheißungsvolle Idee, Molnárs Stück unter dem sezierenden #MeTooBlick von heute einer Neubetrachtung zu unterziehen.
So wechselt der Abend zwischen zu oft bloß albernem Jenseits und kaum psychologisierenden, sondern illustrativen Rückblenden in das Leben Lilioms. Alles geschieht, weil es geschieht. Regisseur Mundruczó und seine großartige Bühnenbildnerin Monika Pormale bieten auf der Pernerinsel einen beeindruckenden Reigen von szenischen Ideen, Choreografien und Effekten auf. Es gibt ein Wasserbassin, in dem ausgelassen herumgetobt wird, es gibt Castorf’sche Videosequenzen aus dem Inneren eines engen Sperrholzverschlags, Schneekanonen und Nebelmaschinen – und ein aufblasbares Krokodil tritt auch in Erscheinung.
Die Stars des Abends aber sind zwei große Roboter-Greifarme, die in schöner Choreografie Kulissen heben und schieben und ein bisschen mitspielen, etwa den sich erdolchenden Liliom mit Blut bestäuben. Im Schlussapplaus verbeugen sich die Industrieroboter sogar elegant.
Roboter machen keine Fehler, weil sie keine Gefühle haben. Sie
Die Inszenierung verliert sich in expressiver Ratlosigkeit Der Regisseur fragt nicht wirklich nach
verurteilen nicht, sie bereuen nicht. Julie, gespielt von Maja Schöne (der man mehr Raum gewünscht hätte in dieser aufgedrehten Inszenierung), sagt einmal, als wieder über ihren Mann Liliom hergezogen wird, diesen Nichtsnutz und Tagedieb: „Es muss auch solche geben.“Verstehen wir die anderen? Ihre Motive, Nöte, Wünsche? Kornél Mundruczó fragt nicht wirklich nach. Mit der schönen neuen Welt der Roboter und künstlichen Intelligenz als Gegenmodell zur impulsiven Unvollkommenheit des Menschen hätte sich vielleicht mehr anfangen lassen. Das berechenbare Seelenlose hier, das unwägbare Gefühlswesen dort.
Die Schlussszene, als Liliom auf die Welt darf, um seine Tochter Luise zu sehen, endet bei Molnár mit einer Ohrfeige, die der unbelehrbar Unbeherrschte dem Mädchen gibt. Mundruczó erzählt es anders. Luise, hier gespielt von der Schauspielerin mit Downsyndrom Paula Karolina Stolze, geschieht nichts. Sie und Julie lassen nichts unversucht, Lilioms Herz zu spüren. Stürmischer Applaus.
Wieder
am 19., 21., 23., 24., 26., 27. und 28. August auf der Pernerinsel in Hallein