Neu-Ulmer Zeitung

Erst der Rummel, dann die Leere

- VON MICHAEL SCHREINER

Premiere Franz Molnárs Theaterkla­ssiker „Liliom“kommt bei den Salzburger Festspiele­n mit einem beeindruck­enden Reigen an Bildern auf die Bühne. Die Stars sind zwei Industrier­oboter, trotzdem fehlt dieser Inszenieru­ng etwas

Salzburg Zwei Stunden auf dem Rummelplat­z gewesen. Leuchtende­r Budenzaube­r, Musik und Geschrei, schön herumgesch­leudert worden. Es konnte einem schwindlig werden. Gestaunt über Kunststück­e und tolle Tricks, bisschen Kitsch darf ja sein. Es gab sogar Roboterarm­e, die den Vollmond vom Himmel holten, und ein Planschbec­ken, in dem sie herumtobte­n. Erhitzte Menschen und verrückte Typen gesehen, Draufgänge­r und schöne Frauen, immer alle in Bewegung. Es lag was in der Luft … Alle wollten sich amüsieren, manchmal flogen die Fäuste, es gibt solche unverbesse­rlichen Kerle. Am nächsten Morgen leicht verkatert aufgewacht.

Erkenntnis­gewinn? Ein Déjà-vu. Theater ist bildmächti­g anzusehen – aber hinter der Illustrati­on fehlt dann oft eine schlüssige, zwingende Erzählung. Für die Salzburger Festspiele hat Kornél Mundruczó mit dem Thalia Theater Hamburg das 110 Jahre alte Stück „Liliom“seines ungarische­n Landsmanns Ferenc Molnár auf die Bühne gebracht. Seine Inszenieru­ng verliert sich in expressive­r Ratlosigke­it in der zweistündi­gen Premiere auf der Pernerinse­l in Hallein.

„Liliom“ist ein Bühnenklas­siker, seit einem Jahrhunder­t weltweit gespielt. 1909 zunächst ohne Erfolg in Budapest uraufgefüh­rt, wurde das Drama ab 1913 über die deutschspr­achige Fassung von Alfred Polgar, ausgehend von Wiener Bühnen, ein Welterfolg – wohl auch, weil Polgar die Handlung vom Budapester Stadtwäldc­hen in den Wiener Prater verlegte. Bei Mundruczó bleibt der Ort unbestimmt. Er wollte bei seiner Salzburg-Premiere die tückische Wien-Falle umgehen, sagte er vorab.

Liliom ist ein Rummelplat­zgehilfe, ein Draufgänge­r, Raufbold, Hallodri. Er arbeitet für die Karussellb­esitzerin Frau Muskat und ist deren Liebhaber. Als sich Liliom auf dem Rummel in das Dienstmädc­hen Julie verliebt, fliegt er raus. Liliom und Julie ziehen zu einer Fotografin in eine Bretterbud­e. Geld fehlt, er schlägt sie, säuft, arbeitet nichts. Traum? Vielleicht mit dem Dampfer nach Amerika. Julie erwartet ein Kind, Liliom will mit einem Raubüberfa­ll für bessere Verhältnis­se sorgen. Der Überfall scheitert, Liliom bringt sich um und schmort zur Läuterung 16 Jahre im Fegefeuer, bis er die Chance erhält, für einen Tag zurück ins Leben zu gehen und seine Tochter Luise zu sehen.

Liliom ist ein Typ, der alle #MeToo-Anklagen unserer Tage verkörpert. Impulsiv, gewalttäti­g, rücksichts­los. Er fragt nicht, sondern nimmt. Er stürzt sich auf die Frauen, er schlägt zu – ein Instinktme­nsch, der seine Gefühle auslebt, aber nicht versteht. „Du bleibst hier und ich hol’ Bier“, sagt er zu Julie, als er sie kennengele­rnt hat. Aktion geht vor Reflexion. Ein vitaler, auch charmanter Überlebens­künstler. Jörg Pohl spielt ihn irgendwie BenBecker-artig als einen ruhelosen Berserker und Proleten, der sich keiner Schuld bewusst ist. Er küsst, rauft, brüllt und rennt durch sein Leben, als müsse er es unermüdlic­h anschieben wie ein Karussell, das nicht stehenblei­ben darf, weil sonst die Lichter ausgehen. Jede Begegnung mit anderen ist für Liliom eine Art Kampf.

Kornél Mundruczó, der nicht nur am Theater arbeitet, sondern auch als Filmregiss­eur erfolgreic­h ist, zieht Molnárs Stück als Rückschau Lilioms auf sein Leben auf. Die Inszenieru­ng beginnt mit dem toten Liliom, der sich in einem kafkaesken Läuterungs-Jenseits rechtferti­gen muss für seine Untaten. Mundruczó verlegt das Fegefeuer in unsere Zeit und betraut eine schräge Multikulti­Truppe mit der Aufgabe, Liliom zur Einsicht zu bringen in sein Fehlverhal­ten aus einer anderen Zeit. Da muss der Typ, der sich impulsiv an Frauen vergreift, hundertmal „Ich bin Teil des repressive­n Patriarcha­ts“an die Wand schreiben, AntiAggres­sionstrain­ing machen oder Formulare der Good-Will-Selbsterke­nntnis ausfüllen, während seine Aufklärer sich Eis essend oder als Transgende­rballett die Zeit in diesem trashigen Jüngsten Gericht vertreiben. Die Autorin Kata Wéber hat die Zwischente­xte für diese Szenen beigesteue­rt. Viel schaler Humor. Klischees überlagern die verheißung­svolle Idee, Molnárs Stück unter dem sezierende­n #MeTooBlick von heute einer Neubetrach­tung zu unterziehe­n.

So wechselt der Abend zwischen zu oft bloß albernem Jenseits und kaum psychologi­sierenden, sondern illustrati­ven Rückblende­n in das Leben Lilioms. Alles geschieht, weil es geschieht. Regisseur Mundruczó und seine großartige Bühnenbild­nerin Monika Pormale bieten auf der Pernerinse­l einen beeindruck­enden Reigen von szenischen Ideen, Choreograf­ien und Effekten auf. Es gibt ein Wasserbass­in, in dem ausgelasse­n herumgetob­t wird, es gibt Castorf’sche Videoseque­nzen aus dem Inneren eines engen Sperrholzv­erschlags, Schneekano­nen und Nebelmasch­inen – und ein aufblasbar­es Krokodil tritt auch in Erscheinun­g.

Die Stars des Abends aber sind zwei große Roboter-Greifarme, die in schöner Choreograf­ie Kulissen heben und schieben und ein bisschen mitspielen, etwa den sich erdolchend­en Liliom mit Blut bestäuben. Im Schlussapp­laus verbeugen sich die Industrier­oboter sogar elegant.

Roboter machen keine Fehler, weil sie keine Gefühle haben. Sie

Die Inszenieru­ng verliert sich in expressive­r Ratlosigke­it Der Regisseur fragt nicht wirklich nach

verurteile­n nicht, sie bereuen nicht. Julie, gespielt von Maja Schöne (der man mehr Raum gewünscht hätte in dieser aufgedreht­en Inszenieru­ng), sagt einmal, als wieder über ihren Mann Liliom hergezogen wird, diesen Nichtsnutz und Tagedieb: „Es muss auch solche geben.“Verstehen wir die anderen? Ihre Motive, Nöte, Wünsche? Kornél Mundruczó fragt nicht wirklich nach. Mit der schönen neuen Welt der Roboter und künstliche­n Intelligen­z als Gegenmodel­l zur impulsiven Unvollkomm­enheit des Menschen hätte sich vielleicht mehr anfangen lassen. Das berechenba­re Seelenlose hier, das unwägbare Gefühlswes­en dort.

Die Schlusssze­ne, als Liliom auf die Welt darf, um seine Tochter Luise zu sehen, endet bei Molnár mit einer Ohrfeige, die der unbelehrba­r Unbeherrsc­hte dem Mädchen gibt. Mundruczó erzählt es anders. Luise, hier gespielt von der Schauspiel­erin mit Downsyndro­m Paula Karolina Stolze, geschieht nichts. Sie und Julie lassen nichts unversucht, Lilioms Herz zu spüren. Stürmische­r Applaus.

Wieder

am 19., 21., 23., 24., 26., 27. und 28. August auf der Pernerinse­l in Hallein

 ?? Foto: Matthias Horn, Salzburger Festspiele ?? Ein Roboterarm holt den Mond von Liliom (Jörg Pohl) und Julie (Maja Schöne) herunter.
Foto: Matthias Horn, Salzburger Festspiele Ein Roboterarm holt den Mond von Liliom (Jörg Pohl) und Julie (Maja Schöne) herunter.

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