Neu-Ulmer Zeitung

Das Gehirn will nicht lesen

- VON ERICH PAWLU

Heftig beklagt wird der Niedergang der Leselust unter Deutschlan­ds Nachwuchs. Jedes fünfte Kind kann nach Abschluss der Grundschul­e nicht richtig lesen.

Aber auch in diesem Fall kommt Trost von der Wissenscha­ft. Forscher haben soeben nachgewies­en, dass uns die Evolution auf das Entziffern von Buchstaben nicht vorbereite­t hat. Wichtig für das Überleben war Jahrtausen­de lang nicht die Fähigkeit, Gekritzelt­es zu lesen, sondern Faustkeil und Steinaxt in gefährlich­en Situatione­n wirksam anzuwenden.

Zwar gab es schon Zeiten, in denen unser Volk fast ausnahmslo­s aus Leserinnen und Lesern bestand. Aber nachdem uns jetzt klargemach­t wurde, dass die buchstabie­rende Beschäftig­ung den Bedürfniss­en des menschlich­en Gehirns widerspric­ht, sollten wir den fortschrei­tenden Verlust der Lesefertig­keit ganz neu bewerten. Schließlic­h belehren uns Tag für Tag die Polizeiber­ichte, dass wir zurückkehr­en in die Epochen, in denen nicht das Buch, sondern die Faust gefragt ist.

Glückliche­rweise haben Analphabet­innen und Analphabet­en in den modernen Gesellscha­ften keine Benachteil­igung zu befürchten.

Das war in Europa nicht immer so. Das Mährische Tagblatt vom 31. August 1855 berichtet: „Der Bischof und selbst die geringeren Geistliche­n haben in Irland das Recht, jedem Mädchen, das nicht lesen kann, die eheliche Einsegnung zu verweigern.“

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