Das Gehirn will nicht lesen
Heftig beklagt wird der Niedergang der Leselust unter Deutschlands Nachwuchs. Jedes fünfte Kind kann nach Abschluss der Grundschule nicht richtig lesen.
Aber auch in diesem Fall kommt Trost von der Wissenschaft. Forscher haben soeben nachgewiesen, dass uns die Evolution auf das Entziffern von Buchstaben nicht vorbereitet hat. Wichtig für das Überleben war Jahrtausende lang nicht die Fähigkeit, Gekritzeltes zu lesen, sondern Faustkeil und Steinaxt in gefährlichen Situationen wirksam anzuwenden.
Zwar gab es schon Zeiten, in denen unser Volk fast ausnahmslos aus Leserinnen und Lesern bestand. Aber nachdem uns jetzt klargemacht wurde, dass die buchstabierende Beschäftigung den Bedürfnissen des menschlichen Gehirns widerspricht, sollten wir den fortschreitenden Verlust der Lesefertigkeit ganz neu bewerten. Schließlich belehren uns Tag für Tag die Polizeiberichte, dass wir zurückkehren in die Epochen, in denen nicht das Buch, sondern die Faust gefragt ist.
Glücklicherweise haben Analphabetinnen und Analphabeten in den modernen Gesellschaften keine Benachteiligung zu befürchten.
Das war in Europa nicht immer so. Das Mährische Tagblatt vom 31. August 1855 berichtet: „Der Bischof und selbst die geringeren Geistlichen haben in Irland das Recht, jedem Mädchen, das nicht lesen kann, die eheliche Einsegnung zu verweigern.“