Neu-Ulmer Zeitung

Rock regiert auf dem Obstwiesen­festival

- VON MARCUS GOLLING

Open Air Schon wieder ein Rekord: An drei Tagen strömen insgesamt 22 000 Menschen auf das Gelände bei Dornstadt. Sie erleben dort ein Programm im Zeichen der Stromgitar­re, das aber auch Raum für aufregend andere Klänge lässt

Dornstadt Konzertbes­ucher mögen es, von der Bühne ein bisschen angeschlei­mt zu werden. Das ist auch auf dem Obstwiesen­festival so. Leoniden-Sänger Jakob Amr weiß das natürlich, aber sein Lob klingt nach mehr als nur profession­eller Frontmann-Rhetorik. „Es gibt nicht so viele Umsonst-Festivals, die so hammernice sind“, schreit er den Tausenden Menschen im Publikum am Freitag entgegen. Und legt noch nach: Die Obstwiese sei das Krasseste. Und das Publikum schreit und klatscht, für sich selbst, aber auch für die Verrückten, die jedes Jahr ehrenamtli­ch den Gratis-Open-AirSpaß in Dornstadt möglich machen.

Der Erfolg ist sicher eine starke Motivation: Mit rund 22000 Besuchern stellte das „OWF“im vergangene­n Jahr einen Besucherre­kord auf. Und dieses Jahr sind es, trotz schlechter­en Wetters und nicht ganz so prominente­n Bands, tatsächlic­h

Die Leoniden aus Kiel werden am Freitag gefeiert

noch einmal mehr geworden: 23 000 Besucher werden laut Clemens Wieser aus dem Organisati­onsteam gezählt, 2000 beim Kinoabend mit dem Film „Die Goldfische“, 12000 am Freitag und 9000 am Samstag. Dass man dies im Vergleich zum Vorjahr weniger bemerkt, liegt Wieser zufolge vor allem daran, dass man das Festivalge­lände vergrößert habe. Die Zeiten, in denen die Macher um Besucher bibbern mussten, sind vorbei, das zeigt auch der erneut volle Zeltplatz: 3000 Camper haben ihr Quartier direkt neben dem Gelände aufgeschla­gen – die Zahl beweist, dass die Obstwiese nicht nur rund um Ulm Fans hat.

Mehr als in manchen vergangene­n OWF-Jahrgängen stehen die Zeichen musikalisc­h auf Rock, wobei Rock relativ ist: Viele Künstler verbindet an diesem Wochenende allein eine gewisse Begeisteru­ng für den Einsatz von Stromgitar­ren. Auf der Obstwiese kennt der Rock ’n’ Roll schon am Freitag viele Schattieru­ngen: Da ist der hymnische Indie-Pop-Rock der Leoniden aus Kiel, der wie eine Spotify-Lieblingsl­ieder-Playlist fast alles, was derzeit von typischen Festivalbe­suchern gerne gehört wird, auf einmal abfeuert: Das klingt nach Beatsteaks, nach Red Hot Chili Peppers, nach Coldplay, nach Green Day, aber zwischendu­rch auch nach Piano-House und R&B. Keine klare Linie, aber eine klare Botschaft: Feiern bitteschön, Obstwiese ist nur einmal im Jahr.

Anders der bluesige, irgendwie etwas speckige Punk des Schweizers Bonaparte, der leider seine Freude an verrückten Verkleidun­gen abgelegt hat und lieber mit seinen beiden Mitstreite­rn geradeaus darauflosr­ockt. „Do you wanna party with the Bonaparte?“Sicher doch, aber für die große OWF-Bühne ist das als griffiger Slogan vielleicht ein bisschen wenig. Da haben es die Bands im Zelt leichter, etwa Die Nerven, die kürzlich nach der Absage der kalifornis­chen Band Wargirl als Ersatz verpflicht­et wurden. Bei den Stuttgarte­rn, deren Energie an die frühen erinnert, funktionie­rt die Idee von Rock als Affront noch. Was auch bei den Viagra Boys aus Schweden stimmt, aber eher an der dunklen Bier-Schwere ihrer Musik und der tätowierte­n White-TrashMasku­linität ihrer Show liegt.

Was die Besucherza­hlen angeht, hinkt der Samstag dem Freitag hinterher, was sicherlich am grauen Himmel liegt, aber schade ist, denn auf dem Programm stehen fast nur Bands, die man sonst in Ulm eher nicht erlebt – und die auch mal fernab jeglicher Rock-Definition ihr Ding machen. Allen voran die Franzosen von Tahiti 80, deren sommerlich-leichter Good-Vibes-Pop manchen Besucher an Phoenix erinnert: Da vergisst man glatt den Nieselrege­n, der zu diesem Zeitpunkt unablässig auf die Köpfe tropft. Und auch Yeasayer, die Headliner des Abends, sind mit Indie-Rock nur sehr unzureiche­nd beschriebe­n. Die New Yorker gehören zu den Bands, die in den Nuller-Jahren neue Inspiratio­nsquellen erschlosse­n haben, ihre Songs schließen tropische Gelassenhe­it und Worldbeat-Rhythmik mit Sixties-Psychedeli­c kurz. Das ist auch auf der Obstwiese, wo sie das Programm der Hauptbühne beschließe­n, eine Attraktion, obwohl nach Mitternach­t einige bereits auf dem Heimweg sind.

Vielleicht liegt das an Erschöpfun­g, vielleicht aber auch daran, dass beim Obstwiesen­festival immer noch der „echte“Rock am besten funktionie­rt. Und den hat am Samstag schon früher die Band of Skulls aus dem englischen Southampto­n geliefert, die extra für den Auftritt von der Insel angereist war: Diese Band war den Organisato­ren offenbar eine Herzensang­elegenheit. Und die Briten bedankten sich mit lässiNirva­na gem, langsam schiebende­n Rock, der eher nach dem Blues-Sumpf der US-Südstaaten als nach englischer Küste klingt: Wer da an die White Stripes denkt, liegt nicht falsch.

Die Band of Skulls hat zudem, was den meisten anderen Gruppen des Festivals fehlt: mit Bassistin und Co-Sängerin Emma Richardson Frauen auf der Bühne. Rock (auch Indie-Rock), das spürt man auf der Obstwiese 2019, hat ein Geschlecht­erproblem, zu oft sind die Jungs unter sich. Das ist nicht die Schuld der OWF-Organisato­ren. Dagegen jedoch ganz bewusst ein Zeichen zu setzen, könnte ein Vorsatz für die Zukunft sein. Wer es schafft, Jahr für Jahr ein solches Umsonst-Festival aus dem Boden zu stampfen, wird daran nicht scheitern.

Mehr Bilder und ein Video online unter

nuz.de/lokales

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Auch wenn die Bands diesmal nicht so prominent waren wie vergangene­s Jahr, so kamen heuer noch mehr Menschen zum Obstwiesen­festival. Gefeiert wurden am Freitag die Leoniden aus Kiel (links), die schwedisch­en Viagra Boys (rechts) hatte einen Hang zur Bier-Schwere.
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